Sie hat sich nackig gemacht. Voll und ganz. Das muss sie auch tun, das Blankziehen als Akt der Nächstenliebe, es ist ein zentraler Moment in Erich Wolfgang Korngolds scheinheilig-hysterischer Oper „Das Wunder der Heliane“. Nun ist es wohl zum ersten Mal wirklich so passiert in der seltsamen, kurzen Rezeptionsgeschichte dieses hypertrophen, kitschigen, abstrusen, faszinierendes Werkes. Bei der mutigen Sängerin Sara Jakubiak hat Nacktheit als durchaus subversiver Akt aber so gar nichts Peinliches, unangenehm Berührendes. Obwohl sie sehr unvermittelt aus ihrer bräutlich weißen Filmstarrobe steigt. Aus der depressiv in sich verschlossenen, von ihrem frigiden Mann ungeliebten Königin wird Eva, Venus, sinnlich und wärmend, aber eben auch – gerade in diesem weihrauchschwülen Mittelaltermysterienspiel-Kontext – eine keusche, mütterliche Maria. Eingehüllt, umschmeichelt, klangbekleidet von schwülstig bitonalem, wohlig waberndem Tonschwall, der, animiert von dem famosen Marc Albrecht, nimmermüd aus dem Orchestergraben über die Brüstung klatscht, sich in der Deutschen Oper Berlin aufschwingt, strahlt, glüht und verweht. So muss man diesen wahnwitzigen, aber eben auch ziemlich geilen Korngold singen und spielen. Und für die eigentlich unspielbare „Heliane“ ist das in dieser Spielzeit (nach Antwerpen) schon die zweite glanzvolle Rehabilitierung. Die wundersam, ja süchtig machend aufgeht, obwohl die Regie wenig unter die Oberfläche dringt.
Wieder mal einen Holzkasten hat der vornehme, aber zunehmend auch öder mit den immergleichen Versatzstücken agierende Minimalist Christof Loy diesmal bei Johannes Leiacker bestellt. Dessen braun getäfelter Einheitsraum, mit drei Fenstern für Licht von Links plus einer Neonröhrendecke für die grell ausgekosteten Stückmomente der Erkenntnis, könnte als nur mit langem Tisch und Stuhl möblierter klassischer Gerichtsraum durchgehen. Schließlich wird ja hier permanent, auch wenn die Uhr iummer auf zwei Uhr zehn verharrt, von diversen Richtern ge- und verurteilt. Und der stimmlich etwas zu klein besetzte Bassbariton Josef Wagner, der sich trotzdem glorios aufschwingt, dem gefühlsversteinerten König drängende Statur gibt, er könnte ein etwas zerstreuter Staatsanwalt sein, der hier konfus in seinen Papieren wühlt. So wie die mit schimmerndem, sicherem Sopran und warmen, lyrischen gesponnenen, aber auch die Klangwogen durchschneidenden Tönen aufwartende Sara Jakubiak, ist sie wieder angezogen, in ihrem grauen Kostüm stark Marlene Dietrich als ambivalent raffinierte „Zeugin der Anklage“ ähnelt. Und der über erstaunliche Tenorreserven und leider ein etwas monochromes Timbre verfügende Brian Jagde als Fremder sitzt hier wirklich dauernd auf dem Delinquentenstuhl.
Aber sie alle, inklusive des sonoren Pförtners Derek Welton, des wimmernd blinden Richters im Bratrock (feine Charakterstudie: Burkhard Ulrich) und der als eifersüchtige Schreibkraft aufstampfenden, herrlich altsatten Okka von der Damerau (Botin und Ex-Geliebte des Königs), sie sind kaum zu unterscheiden und sozial zuzuordnen. Weil Christof Loy in Barbara Drosihns schwarz-weiß-grauen Kleidern keine Menschen inszeniert, sondern nur Fallstudien, ort- und zeitlos. Er arbeitet zwar brav und folgerichtig ab, was ihm das zeitgeistig umwölkt schwafelnde Libretto Hans Müller-Einigens da über Mord und doppelte Auferstehung im Sühnezeichen der wahren Liebe an christlich-symbolplatten Abstrusitäten abverlangt. Aber er hat wieder mal so gar keine Haltung zu dem seltsamen Plot, stellt ihn kaum in Frage, deutet ihn nicht, wickelt einfach nur ab. Das freilich durchaus spannungsvoll und auf handwerklich hohem Niveau. Aber etwas mehr Phantasie, auch der Mut zum Surrealen oder einfach nur Zuckrigen wäre in diesem dauernüchternen Ambiente schon schön gewesen.
So sind aber alle bestens aufgehoben und ausgestellt. Das hervorragende Ensemble in der sängerfreundlichen Kiste, Jeremy Bines’ spät dann umso massiver, ja dramatisch loströtender, aber eben nie gellend übersteuerte Chor. Und das fantastisch aufspielende, brillante, disziplinierte Orchester. Erich Wolfgang Korngold, damals dann immerhin schon 30 Jahre alt, kennt seine eigene „Tote Stadt“, aber auch die dissonant peitschenden Noten der „Elektra“ von Strauss sehr genau. Und er übertrumpft zwischen Kitsch und Kolportage (aber auch gar nicht so weit weg von Fritz Langs im gleichen Jahr 1927 uraufgeführtem „Metropolis“) alles, was sich an sumpfiger absurd überspreizter Salonmusik in diesen Jahren auf der üppigweichen Klangcouch lasziv lümmelt.
Marc Albrecht freilich weiß bis hin zum ogel- und fanfarenheulenden Finale in diesem Urstomtal der Töne genau zu filtern, zu leiten und zu gliedern. Er wird laut, säuselt aber auch zärtlichst, haut rein und teilt aus. Immer im manierlichen Rahmen, nie den Faden und die Zügel verlierend, pflügend und fein ziselierend. Musik als gleißende Klangwand, durch die trotzdem wundersam die Solostimmen dringen, verführen, einlullen, vergessen lassen. So wie die nackte Heliane, dem Fremden in diesem trostlosen Land, wo schon ein Lächeln ein Verbrechen ist, mit dem weißen Schein ihres nackten Körpers sinnlich und sinnfällig heimleuchten will. Hingehen, genießen!
Der Beitrag Zeugin der Korngold-Anklage: Sara Jakubiak ist an der Deutschen Oper Berlin „Das Wunder der Heliane“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.