Preise in der Kultur gibt es mehr als genug, auch in der Musik. Seltener ist es freilich, dass ein Freund eine Freundin auszeichnet. Und sie dies auch so verdient hat wie Gabriela Montero, die jetzt aus der Hand und mit den Worten von Igor Levit den mit 10.000 Euro dotierten, zum sechsten Mal ausgelobten Musikpreis Heidelberg Frühling verliehen bekommen hat. In der sowieso schon kuschelig holzgetäfelten alten Aula der Universität mit ihren deutschtümelnden Bildern wurde es – im Gegensatz zum klirrkalten Draußen – noch wärmer, als der auch scharf austeilen könnende Levit nun kurz und treffend das Loblied auf Gaby sang. Und es wurde schnell klar: Hier mögen sich nicht Pianisten auf Augenhöhe, hier geht es um mehr. „Anybody can play. The note is only 20 percent. The attitude of the motherfucker who plays it is 80 percent.“ Mit dem keine Frage offen lassenden Miles-Davis-Zitat machte Levit schon eingangs deutlich, was er an dieser sehr besonderen Pianistin schätzt: Ihre Offenheit und daraus resultierende Menschlichkeit. Denn die 47-jährige Venezolanerin begegnet eben nicht nur Bach, Beethoven und Rachmaninow, die sie in Konzertsälen lebendig macht, sondern eben auch den darin befindlichen Menschen, auf deren Anregungen und Vorschläge hin sie improvisiert – eine rare Gabe. Die heute gerade in der elitären Klassik kaum einer mehr pflegt. Weil man sich quasi ausziehen, verletzlich, verwundbar machen muss, wenn man ganz spontan nach einem Einfall und seiner musikalisch-melodisch-harmonisch-rhythmischen Weiterführung suchen muss. Diese Pianistin hat freilich noch ein weitere Mission oder Haltung, wie man es nennen mag. Seit Jahren schon macht sie öffentlich aufmerksam auf die brutalen Missstände in ihrem bodenschatzreichen Heimatland, dass sie schon vor langer Zeit verlassen hat und in das sie gegenwärtig nicht zurückkehren kann, weil es von eine Clique brutalster Politiker in Geiselhaft genommen wird.
Und dabei hat sich auch die Musik beschmutzt. Weil man sehr clever das gerade weltweit Furore machende El Sistema, die vorbildliche, landweist längst etablierte Sozialmaßnahme, Kinder mit Instrumenten von der gefährlichen Straße wegzulocken und ihnen im besten Falle eine Berufsperspektive zu bieten, unterhöhlt und als Propagandamittel missbraucht hat. Festivals und Konzertveranstalter, Kritiker und Besucher, alle haben sie sich von scheinbar naiven Charme der venezolanischen Jugendlichen mit ihrem charismatischen Dirigenten Gustavo Dudamel an der Spitze anstecken lassen – und sonst gern weggeschaut. Jetzt, wo selbst Dudamel, der viel zu spät, erst nach einem Musikermord den Mund aufgemacht hat, Persona non Grata ist und das Simon Bolivar Orchester nicht mehr im Ausland gastieren darf, wo sind da die Aufschreie und Protestaktionen der Veranstalter, die viel Geld mit ihm gemacht haben? Die Klassikkarawane zieht ungerührt weiter.
So zynisch aber ist Gabriela Montero nicht, kann sie gar nicht sein. Die alleinerziehende Mutter zweier Töchter hilft wo sie kann und das erzählte sie auch in ihrer wiederum mit einem Nina-Simone-Zitat beginnenden Heidelberger Dankesrede: „Heute verbringe ich meine Zeit damit, über verschlungene Wege Medizin und Lebensmittel nach Venezuela zu schicken. Mich erreichen Hunderte Mitteilungen von Musikern, die mich um Hilfe bitten, um Geld, um Arzneimittel oder einen Weg in ein neues Leben in den USA oder in Europa. (…) Es war mir immerhin möglich, für drei Musiker Plätze im Konservatorium von Barcelona zu finden, danke dem dortigen Leiter und der Freigiebigkeit der venezolanischen Exilgemeinde. (…) Ich werde meinen Mund nicht halten, bis diese Ziele erreicht sind. Schweigen ist keine Option.“
Vorher aber erinnerte Igor Levit, daran, wie die beiden sich nach lebhaftem und sich gleich ungeheuer vertraut anfühlendem WhatsApp-Austausch endlich persönlich kennengelernt haben. Was noch gar nicht so lange her ist. Bei einem Konzert von Gabriela Montero in der Komischen Oper Berlin, wo sie im Juli 2017 unter der Leitung der litauischen Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gerade den Auftakt zu Peter Tschaikowskys 1. Klavierkonzert setzen wollte, standen zwei Landsleute der Pianistin als Zeichen des Protests gegen die politischen Vorgänge in ihrer Heimat auf, hielten die Flagge hoch und sangen die Nationalhymne. Levit nannte es einen „Gänsehautmoment“, zu erleben, wie bewegt, offen und ehrlich Gabriela Montero dem Gesang ihrer Landsleute zugehört habe: „Was danach folgte, war mit das berührendste b-Moll-Konzert, welches ich jemals hören durfte“, so Levit. „Da saß eine Künstlerin auf der Bühne, für die das Musikmachen eine ungeheuer existenzielle Wichtigkeit einnimmt.“ Die Distanz zwischen Interpretin und Werk war gefallen: „Ihr Kampf für ihr Land, für ihr Volk, ihr Leid, ihre Hoffnung, die sie lebt, und für die sie einsteht, Tag für Tag, Stunde zu Stunde, das alles wurde lebendig.“
Und Igor Levit, der von der Pianistin Montero auch als „wundervolle Musikerin, die eine Gestaltungsmacht, eine Imagination, eine innere Freiheit besitzt, die ihresgleichen sucht“, schwärmte, führte weiter aus: „Wie tief muss das Vertrauen gegenüber Gabriela Montero bei tausenden und tausenden von Menschen wohl sein, die sich ähnlich furchtlos ihr anvertrauen, die ihr schreiben, die sie in ihre Welt mitnehmen, die keine Furcht haben, Gabriela ihren Schmerz mitzuteilen, weil sie wissen, dass sie mit diesen Gefühlen so innig und so warm und so menschlich umgehen wird, wie nur irgend möglich? Sie vertrauen ihr, weil sie wie kaum jemand ihre Stimme erhebt. Sie kämpft für ihr Land, für ihre Mitmenschen, unabhängig davon, ob sie Freunde oder Fremde sind. Gabriela lebt Verantwortung, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie ist für jeden da, nimmt sich Zeit, nimmt Kraft, auch wenn keine da zu sein scheint, sie hört zu, sie versucht zu helfen, sie nimmt Anteil, sie kämpft. Sie erträgt Drohungen und Erschöpfung, sie erträgt alle Hürden, weil sie ihre Hoffnung an die Menschen und an ihr Land nie aufgegeben hat und niemals aufgeben wird. Sie zeigt Haltung.“
Und nicht nur das, sie hat auch Mut zum Risiko. Und, damit schlug sich an diesem spätwinterkalten Morgen dann nach einer kurzen Gedankenaustausch, der das Weltbild der Preisträgerin „für aufgeklärte Bürger“ (Levit) noch deutlicher werden ließ, doch wieder der Bogen zur Musik. Denn Gabriela Montero improvisierte am Klavier, war nun „nur“ Pianistin. Allerdings mit Können und Menschenliebe, mit Wärme und Neugier. Mit Nähe. Mit Haltung eben.
Der Beitrag Haltung und Künstlertum: Musikpreis Heidelberger Frühling für Gabriela Montero erschien zuerst auf Brugs Klassiker.