Was machen eigentlich die Flüchtlinge in Schloss Allemonde? Die auch als Bettler, Dienerinnen, Schafe herhalten müssen? Warum sind sie weiblich und von schwarzer Hautfarbe? Warum werden sie in Handschellen abgeführt und erkennungsdienstlich behandelt? Um dann doch plötzlich wieder aufzutauchen und Mélisande an der Leiche ihres Geliebten Pelléas zu trösten? Fragen über Fragen, die nur der Regisseur Peter Sellars beantworten kann, der diesmal als Artist-in-Residence der Berliner Philharmoniker an deren Konzertort die Debussy-Oper nicht (wie etwa die Matthäus und Johannes Passion zuvor) „ritualisiert“ sondern „inszeniert“. Wobei man sich im Verlauf des überlangen, nach der Pause deutlich Publikum verloren habenden Abends zudem fragt, ob das überhaupt sein muss.
Wenn Künstler zu lange in einer Stadt sind, dann beginnen sie sich zu wiederholen. Besonders Dirigenten, deren Repertoire bei aller Vielseitigkeit irgendwann doch an Grenzen stößt. Das kann man interessant finden (Varianz! Neuer Zugang! Weiterentwicklung!), aber auch schlicht öde. Daniel Barenboim dirigierte eben nach seinen zweiten „Meistersingern“ zum Saisonauftakt seine zweite „Traviata“-Premiere. Simon Rattle, der wohl keine Oper so oft aufgeführt hat wie eben Debussys esoterisches Meisterwerk, bei dem bei aller Feinheit viele ein ebenso feines Gähnen nicht unterdrücken können, rückt nun ebenfalls zum dritten Mal damit in Berlin an. Und macht das Werk dann gleich nochmal im Januar mit seinem neuen London Symphony Orchestra.
In Berlin gab es gleich vier Vorstellungen, in einer Stadt in der das nicht eben populäre Werk (die Philharmonie-Tickets wurden deshalb angesichts des Aufwands auch vergleichsweise moderat ausgepreist) bereits in zwei Inszenierungen vorhanden ist – theoretisch noch als Ruth-Berghaus-Klassiker der Lindenoper (zuletzt 2008 mit Rattle und seiner damals hochschwangeren Frau Magdalena Kozená zu sehen) und an der Deutschen Oper (zuletzt in diesem September gespielt). Und 2006 hat es Rattle bereits mit der ihm damals näher stehenden Angelika Kirchschlager konzertant in der Philharmonie aufgeführt.
Er und sein Orchester können das, keine Frage. Schließich hat man nicht umsonst in den letzten Jahren viel französische Musik auf dem Speiseplan gehabt. Dunkel und unruhig wabert hie die Stimmung im Märchenforst und -schloss, am Brunnen, in der Grotte, am Gestade, auf dem Turm. Zu sehen sind davon ziemlich konkret ein schwarzes Blockpodest, links zwischen den zweiten und ersten Geigen, zehn esoterisch glühende, über den Philharmonie-Raum verteilte Neonleuchtstäbe. Treppen und Gänge müssen als Lichtschneisen herhalten, über die bisweilen auch aufgeschreckte Zuspätkommer und Frühergeher huschen; der abgeräumte Klavierlift ist die beengte Spielfläche am Podium. Flöten und Klarinetten sitzen dort in den Streichen jeweils eingebettet ganz außen, aus der Mitte tönen Oboen und Benedikt Wollenwebers hauchzartes Englischhorn. Klang als Fluidum, nicht zu orten, traumschön.
Nach der Pause präsentierte uns Mélisande Magadalena Kozená, barfuß schon die ganze Zeit und mit der dauerregt eurhythmitisierten Expressivgestik einer gotischen Madonna, auch noch ihren falschen Babybauch. Hat sie dann im fünften Akt entbunden, schwenkt und schaukelt die unauffällige Stiefschwiegermutter Geneviéve (luxuriös: Bernarda Fink) gar ein Tücherbündel. Jetzt wissen wir also, wie scheinschwanger semikonzertant geht – so viel Opernrealismus im Scharoun-Rund war noch nie.
Und wollen wir eigentlich nicht wieder. Weil es albern und überzogen wirkt, was Peter Sellars, an drei Berliner Opernhäusern ostentativ nicht beschäftigt, da ausbreitet. Entweder man inszeniert „Pelléas et Mélisande“ richtig, oder man deutet nur die Konstellationen an. Aber wenn der formidable sinistre Golaud des herrlich singenden Gerald Finley, seiner Mélisande vor der ersten Zuschauerreihe und dem Rücken ihres echten Ehemannes in den Bauch tritt, wenn der kräftig intonierende Tölzer Knabe als Yniold drei Treppen hinabstürzen muss, um auf den Schlag im Arm seiner Stiefmutter Mélisande zu landen, dann wirkt das seltsam grotesk. Denn dieser Pseudorealismus in der Dunkel gedimmten Philharmonie wird anderswo wieder vermieden, beispielsweise gibt es beim Mord am Pelléas des ein wenig oberlehrerhaften, aber flexiblen, im Timbre freilich dem ebenfalls hellen Bariton Finley sehr nahe kommende Christian Gerhaher weder Messer noch Blut. Und auch die Liebesszene im Turm bleibt nur züchtig im Andeutungshaften. Da ist der Amerikaner dann eben doch Puritaner.
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