Quantcast
Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
Viewing all articles
Browse latest Browse all 826

Movimentos 2018: die Tanzwochen in der Autostadt starten stark mit Crystal Pite

$
0
0

Foto: Michael Slobodian

Ja, es geht weiter! Die 16. Movimentos Festwochen der Autostadt in Wolfsburg finden ab morgen fünf Wochen lang unter dem Thema „Würde“ statt. Internationale Künstler aus den Bereichen zeitgenössischer Tanz, Jazz, klassische Musik sowie Schauspielgrößen aus Deutschland sind in der Autostadt, im Volkswagen KraftWerk sowie in Kulturräumen der Stadt Wolfsburg und Braunschweig zu erleben. Bernd Kauffmann, Künstlerischer Movimentos-Leiter, will sich beim diesjährigen Motto ganz besonders „dem Wert und der Wahrheit dieses hohen Guts nähern, und Spuren des Nachdenkens legen“. Und auch wenn im Tanzbereich viele alte Movimentos-Bekannte dabei sind, von Wayne McGregor über Philippe Decouflé, die Sidney Dance Company, die Grupo Corpo und den taiwanesischen Altmeister Lin Hwai-min mit seinem Cloud Gate Dance Theatre: Erstmals in Deutschland ist Ballet BC aus dem kanadischen Vancouver zu genießen – mit drei Choreografien von Crystal Pite, Sharon Eyal und mit der Deutschlandpremiere von Evelyn Molnars „16+ a room“ eröffnet die spannende zeitgenössische Company das diesjährige Movimentos-Tanzprogramm im KraftWerk.

Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der 47-jährige Kanadierin Crystal Pite. Denn sie hat gegenwärtig in der Tanzwelt einen ziemlich guten Lauf: weil sie eine Frau ist, weil sie etwas auf sehr individuelle, dabei versatile Weise zu sagen hat, weil sie fünf Jahre bei Billy Forsythe in Frankfurt tanzte, weil sie seit 2002 ihre eigene Company Kidd Pivot in Vancouver führt, aber auch weil sie sehr gut in der Ballettwelt andocken kann.

Foto: Sharen Bradford

Denn die Kanadierin, die für ihren kraftvoll energetischen Tanzstil, aber auch für ihr weit darüber hinaus reichenden Inhalte geschätzt wird, ist mehrere längerfristige Kollaborationen eingegangen. Crystal Pite ist assoziierte Künstlerin beim Nederlands Dans Theater, beim National Arts Center Canada und beim Londoner Tanzpowerhaus Sadler’s Wells. Wiederholt hat sie mit dem Dramatiker Jonathon Young Stücke geschaffen, die auf sehr eigenwillige Weise Tanz und Text verbinden. Das derzeit meistdiskutierte ist „Betroffenheit“, ein Stück Trauerarbeit für einen Vater, der den Tod des Kindes zu beklagen hat.

Pite ist eine Künstlerin  von  hoher  Intelligenz  und unerschöpflichem Erfindungsreichtum. Ihre klassische Ausbildung hat sie mit der frei formulierten Bewegungssprache einer Improvisationskünstlerin verbunden. Ihre  Arbeiten kreisen stets um das Wesen des Menschlichen, und das verleiht ihren Stücken eine lebendige, emotionale, nicht selten komische Dimension. Überbordende Lust an der Bewegung und die Entschlossenheit, ihre Zuschauer in Staunen zu versetzen, prägen ihr Œuvre. Beglückt lässt Crystal Pite tanzen, beglückt tanzt sie selbst und berührt ihr Publikum mit einer Ästhetik, die in der sensiblen Schwebe zwischen Intellekt und Sinnlichkeit oszilliert – immer auf dem schmalen Grat zwischen der Erfüllung und dem bewussten Unterlaufen der Erwartungen, die an den Tanz herangetragen werden.

Über fünfzig Tanzstücke hat Crystal Pite in den letzten drei Jahrzehnten geschaffen, und keines gleicht dem anderen. Sie weiß sich der unterschiedlichsten Bewegungsstile und theatralischen Mittel zu bedienen, vom Tanztheater übers absurde Theater zum klassischen Ballett und zu seiner Dekonstruktion, auch HipHop liebt sie. Crystal Pite hat beim Nederlands Dance Theatre ihr in Wolfsburg gezeigtes, atmosphärisch von Kunstschnee durchwirbelndes „Solo Echo“ zu Sätzen aus den Cellosonaten von Johannes Brahms herausgebracht, wo es um Einsam- und Gemeinsamkeit, Reaktion und Sensibilität geht. Sie hat mit Riesenerfolg in einem Programm neben ihrem Mentor William Forsythe für die Pariser Opéra gewirkt (wo nächstes Jahr ein abendfüllendes Werk von ihr ansteht), sie wurde in Wiesbaden nachgetanzt und auch das neuformierte Staatsballett Berlin müht sich um sie. Und im Januar kam mit überwältigenden Erfolg in Zürich ihr Klassiker „Emergence“ heraus, ihr einziges Opus auf Spitze. „Emergence“, das wortspielt mit „Entstehung“, aber natürlich auch mit „Emergency“ – „Notfall“  wurde 2009 in Toronto uraufgeführt.

Foto: Wendy D

Wo kommt eigentlich ihr eigener Name her? Lassen wir sie also Chrystal Pite selbst sprechen: „Ich weiß es nicht. Meine Eltern sind dafür verantwortlich. Es klingt ein wenig esoterisch, das stimmt, aber so ist es eben.

Ich tanzte immer schon als Kind, nicht nur bewegen, sondern tanzen, vor Leuten, ich habe gern performt und andere musste zusehen. Da ist total natürlich für mich, so bin ich. Und ich wollte alles machen, habe verschiedene Schulen besucht, Klassik, Jazz, Step, nichts war vor mir sicher, auch Drama, Musical. Theater. Zum Glück hatten wir gute lokale Schulen, ich habe da so viel gelernt und wollte deshalb nie zu einer großen, bedeutenden Institution wechseln. Ich bin dann auch direkt von meiner kleinen Tanzschule zu den Profis gekommen, ich hatte Glück, aber das war auch natürlich für mich. Ich bin wohl eine Frühvollendete und habe einen ziemlichen Dickkopf.

Ich wollte mich dann doch auf Ballett fokussieren. 1988 kam ich dann zum Ballet British Columbia in Vancouver und tanzte dort acht Jahre lang Stücke von Forsythe, Kylián, Glen Tetley, Cranko, viele europäische Stücke aber auch Uraufführungen kanadischer Choreografen. Eine gute, variantenreiche Erziehung, die alle auf meinen Weg, auf einen Stil hinführten. Ich habe aber auch die normale High School abgeschlossen, stand stets mitten im Leben, atmete nicht in einer Tanzblase, das ist bedeutsam für mich bis heute. Und deshalb war mein Horizont so breit, dass ich das Abenteuer gewagt habe und für fünf Jahre zu Billy Forsythe nach Frankfurt gekommen bin, habe sein ganzes, großes Repertoire, auch die epischen Stücke tanzen dürfen. Kurz bevor dann die große Company schloss, bin ich wieder zurück nach Vancouver. Denn hier sind meine Wurzeln, das war auch immer der Plan, es hat nur länger gedauert, weil es mit Billy so inspirierend war, weil er uns so viel Verantwortung gegeben hat.

2001 ging dann also das Abenteuer in Kanada so richtig los. Mein Partner Jay Gower Taylor, der heute auch mein Bühnenbildner ist, war in dieser Zeit in Toronto und es war klar, dass wir wieder zusammen sein, zusammenarbeiten, auch ein Kind haben wollten. Es wurde alles Wirklichkeit. Ich war 30 Jahre alt, tanzte meine eigenen Stück mit meiner eigenen Company, wow! Das war gar keine so schwierig Entscheidung, es war nur bisweilen schwierig es durchzuziehen, die Stärke und die Disziplin zu finden. Ich konnte da weitermachen, wo ich aufgehört hatte, da ich mich in Kanada als Choreografin bereits etabliert hatte, und ich war viel stärker in meiner eigenen Sprache, nachdem ich an Forsythe geschult worden war. Er hat mir so viele kreativen Möglichkeiten gegeben, meine eigene Sprache zu optimieren, da er ha so kooperativ arbeitet, seine Tänzer immer auch Schöpfer sind. Ich hab jeden Tag von diesem großen Meister fünf Jahre lang lernen können, über die Bedeutung dieses Geschenkes bin ich mir erst wirklich im Klaren gewesen, als ich gesehen habe, was ich jetzt selbst konnte. Ich bin dankbar und liebe sein Werke immer noch. Wie grandios war es dann, Jahre später einen Abend mit ihm an der Pariser Oper teilen zu dürfen, wo er nach langen Jahren wieder einmal für eine klassische Kompanie arbeitete. Er ist so eine wichtige Person in meinem Leben.

Foto: Wendy D

Ich weiß gar nicht, woher diese Stärke kommt, eine eigene Truppe zu führen, ich habe es mir einfach immer so vorgestellt, schon von Kindheit an. Und heute ist es ideal, ungefähr die Hälfte des Jahres arbeite ich mit meinen eigenen Leuten, die dann immer wieder auf Projektbasis zusammenkommen und ein halbes Jahre machen ich Auftragsarbeiten für andere Kompagnien. Für mich ist das eine tolle Balance, weil die eine Tätigkeit der anderen nützt und umgekehrt. Ich kann frei ausprobieren, muss mich aber auch darauf konzentrieren, in einem bestimmten Zeitraum etwas zu vollenden. Ich bin ja sogar noch einmal drei Jahre zurück nach Frankfurt, wo ich meine Company als Residenzensemble am für drei Jahre am Mouson Turm versammeln konnte. Neun Tänzer, die mit drei neuen Stücken tourten plus ein Kleinkind, das war ganz schön anstrengend.

Auf Dauer war das natürlich nicht durchzuhalten. Und ich habe auch gemerkt, wie gut es ist, wenn die Tänzer zwischendurch mit anderen Choreografen arbeiteten. Ich hatte nie den Ehrgeiz, die einzige Person zu sein, die für ihre künstlerische Reise verantwortlich zeichnet. So kommen sie frisch und neugierig zurück, und wir können da weiter machen, wo wir aufgehört haben und trotzdem ist jeder von uns, um Erfahrungen reicher. Viele von ihnen sind selbst Choreografen, haben eigene Truppen, sogar Schulen, sie kommen als sehr unabhängige Persönlichkeiten wieder, die von mir herausgefordert werden wollen. Und dafür muss ich mich auch anderswo beweisen, muss neue Erfahrungen gemacht haben. Das ist anstrengend, aber dieser Rhythmus hält die Dinge frisch und gesund. Unsere gemeinsame Zeit ist wertvoll und wir lernen voneinander. Alles sind unabhängig, aber seit auf einander bezogen, wenn wir zusammen sind. Das ist toll und schön. Sie haben das gewählt und ich auch.

CrystalPite probt mit dem BallettZürich Foto: Gregory Batardon

Drei der gegenwärtigen Tänzer kommen aus ganz Amerika, drei aus Vancouver. Ich hatte aber auch schon welche aus der ganzen Welt. Dem geht natürlich eine nicht eben leichte Logistik voraus. Wir beten immer zu den Terminplan-Göttern, das es auch funktionieren möge. Bisher waren sie weitgehend gnädig. Und unser Rhythmus, den wir jetzt seit vier Jahren verfolgen, der gibt jedem von uns Klarheit. Wir wissen genau, worauf wir uns einlassen. Es hat freilich 15 Jahre gedauert, bis wir endlich diese Linien gefunden haben. Ich wollte übrigens nie meine Namen als Bezeichnung der Company und ich wollte darin auch nicht das Wort „dance“. Und auch nicht „Vancouver“. Ich mochte „pivot“, weil „Drehpunkt“, „Achse“ sehr präzise einen technischen Vorgang beschriebt, der aber auch seinen Standpunkt ändern kann.

Er ist ein strenges, klares Wort, dagegen wollte ich einen Kontrast, so kam „Kidd“, Billy the Kidd, Captain Kidd, der Pirat. Kidd heißen auch viele Wrestler, das ist also auch ein brutales und trotzdem komisches Wort, maskulin, aggressiv. Zusammen hört es sich an wie ein Super Hero, das finde ich großartig. Als ich den Namen vor 15 Jahren wählte musste er in der Folge für mein zu kreierendes Repertoire stehen. Und in der Rückschau kann ich sagen: es war dafür ein perfekt gewählter Namen. Ich mag immer mehr die Spannung zwischen dieses beiden Begriffen, sie inspiriert mich sogar mehr als je zuvor.

Auch in meiner Musikauswahl bin ich sehr eklektisch. Ich mag bereits vorhandene Musik, jeder verbindet damit ganz eigene Assoziationen. Ich kann wie einem Script folgen, Strukturen sind bereits vorhanden. Aber auch Neues ist aufregend, wird stets zum Abenteuer, weil ich nicht wie, wo es hinführt, im Idealfalls Töne und Bewegungen gemeinsam entstehen. Ich darin auch mehr Geschichten verweben, kann mit mehr Sprache arbeiten. Ich arbeite seit ich zwanzig bin mit demselben Komponisten zusammen, wir konnten zusammen wachsen, haben dieselbe Sprache, ein Urvertrauen. Wir stellen uns beispielsweise die Frage: was ist der Klang von vielen? Wenn sie marschieren, wenn sie atmen.

Interessanterweise habe ich – im Gegensatz zu Forsythe – kein Interesse, auf Spitze tanzen zu lassen, von meinen etwa 50 Choreografin verwendet nur eine Spitzenschuhe. Ich bin auch gar nicht so wild auf Ballett, von Forsythe habe ich mehr übernommen, was nichts mit klassischem Tanz zu tun hat. Meine Interesse seither gilt mehr dem HipHop und dem Street Dance, der mich inspiriert. Ballett ist freilich in mir drin, das ist meine DNA und ich liebes es, gute Balletttänzer gegen ihre eingefahrenen Prozesse loszulassen. 2019 werde ich das  mit einem abendfüllenden Ballett an der Pariser Oper machen. Ich weiß noch nicht, was es sein wird, aber es wird seeehr aufregend! Noch keine Pläne gibt es für das neue Staatsballett in Berlin, aber sehen wir mal….“

Der Beitrag Movimentos 2018: die Tanzwochen in der Autostadt starten stark mit Crystal Pite erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 826