Nein, die „Donna Diana“-Ouvertüre hat Kirill Petrenko, designierter Chef der Berliner Philharmoniker, bisher noch nicht aufgeführt. Aber man könnte meinen, der ab 2020 in der Hauptstadt amtierende Russe spiele mit seinen künftigen Musikern „Erkennen Sie die Melodie?“, so wie Ernst Stankowski einst mit dem von-Reznicek-Klängen begleiteten Auftakt zu seinem TV-Rateklassiker. Denn in eigentlich jedem der spärlich jährlich dosierten Petrenko-Aufritte im Scharoun-Fünfeck (es ist erst der zweite seit der Berufung!) gibt es Rares zu hören. Der Chef in spe an der Spree scheint hier noch die magischen Bs, aber auch sonstiges sinfonische Standardfutter zu scheuen. Schön für die Jäger und Sammler, das könnte man sich durchaus auch als ein künftiges Prinzipalprinzip vorstellen. Dieses Mal im Preziosenkästchen: Paul Dukas’ exotisch parfümiertes, extrem raffiniert orchestriertes Kurzballett „La Péri“, das 1961 zuletzt auf den philharmonischen Notenpulten lag und die sich hier noch ein Jahr länger durch Absenz auszeichnende 4. Sinfonie des nur in Österreich als Komponistenstar geltenden Wiener philharmonischen Cellisten Franz Schmidt. Als Augen- wie Ohrenschmaus haut dazwischen der chinesische Tastenwirbelwind Yuja Wang mal eben Sergei Prokofiews 3. Klavierkonzert so weg.
Das spielt sie mit lächelnd motorischer Kraft, hammerhart energetisch (deshalb sofort Beifall nach dem 1. Satz), aber auch elegant, wenngleich die das Orchester vornehmlich begleitenden Variationen des Andantinos etwas zu wenig Poesie atmen. Trotzdem toll, wie sie hier filigran klöppelt; Feuerwerk mit ekstatischer Apotheose dann wieder im Finale. Petrenko, der das mit gleichwohl entspannter Akkuratesse und Delikatesse begleitet, das philharmonische Fitzelwerk im Griff hat, gleichzeitig der Solistin Freiheit lässt und trotzdem souverän die Oberleitung behält, bekommt dafür verdutzt von der korallenrot hauteng glitzernden, auf noch gefährlicheren Stöckeln als sonst balancierenden Yuja Wang deren Blümchen in die Hand gedrückt: Du Frau, ich Chef! Er schmunzelt es weg. Bevor sie eine noch mehr viele Noten auf kleinstem Raum knallig bündelnde Zugabe (3. Satz aus Prokofiews 7. Klaviersonate) in den Steinway rammt.
Die beiden sind ein ungewöhnliches Paar, aber ein vertrautes Duo, das Prokofiew-Showpiece haben sie zuletzt gemeinsam im Februar mit dem Israel Philharmonic Orchestra musiziert, wo Petrenko gern Repertoire ausprobiert. Auch „La Péri“, das 1911 von Serge Diaghilev für seine Ballets russes bestellte, aber dort nicht uraufgeführte Tanzpoem von Paul Dukas hatte er dort im Programm. Mit den aufmerksam, aber nicht angespannt wirkenden, personell luxuriös besetzten Philharmonikern wird es jetzt zum Musterstück in hellwach instrumentaler Zartheit, gustiös sich wiegenden Pseudo-Hindu-Rhythmen und fein sprühenden Tutti-Entladungen. Das verströmt impressionistischen Duft, intim und elastisch, wird aber sehr geerdet und sorgfältig exerziert. Ein wenig mehre Nonchalance wäre schön gewesen, aber man ist ja noch dabei, sich zu beschnuppern, die gemeinsamen Möglichkeiten auszuloten.
Nach der Pause dann der schwerblütige Trauerfall 4. Sinfonie, den Franz Schmidt einsätzig, aber vierteilig und klar durchbuchstabiert anno 1933 als spätromanisch sinfonischen Bogen über hier kurzweilig rasche 40 Minuten schlug. Selbst die Ausgangstonart C-Dur klingt verschattet. Man darf nicht an Mahlers melancholische Komplexheit oder Schostakowitschs trotzige Diversität denken, und doch rührt diese lautere, eigenwillige Musik – ohne freilich wirklich tief zu gehen. Schön, ihr wieder einmal zu begegnen und zu erleben wie Kirill Petrenko das ruhig, aber fordernd disponiert, sparsam gestaltet: vom fast zerbrechlich anmutenden Trompetensolo Gábor Tarkövis an, der in ähnlicher Attitüde diese fahlen Klänge im resignativ sich zurückziehenden Finale verklingen lässt.
Petrenko kennt die beherzten Aufschwünge, lässt es auch mal laut werden, bleibt aber immer diszipliniert. Da knallt nix, da wühlt sich keiner in Pose. Man spürt ein waches Geben und Aufnehmen zwischen Dirigent und Orchester, große Bereitschaft, Neugier, verhaltene Freude. Hier wird klar vorgegeben und feinsinnig erfüllt, Freiheit muss sich noch einstellen. Ist bei dieser düster rückständigen, dann wieder in dunkle Harmonien wechselnden, mit einer verhalten unterschwellig antreibenden Dynamik erstaunlich modern anmutenden Requiem-Musik auch nicht so gefragt. Petrenko kann das, er hat dieses seltene Werk schon öfters ausgeführt, er will beim Außenseiter Schmidt Grundsätzliches über die Gattung aufspüren, es ausstellen. Das gelingt ihm ohne Zwang, die großen Unisono-Stellen kommen schlicht, aber überzeugend. So wie auch der Beifall am Ende vor allem respektvoll tönt. Was das Schlechteste nicht ist.
Man hat also den Philharmonikern beim Arbeiten zugehört und –gesehen. Um den zirzensischen Klavierkürlauf herum waren esoterisch anmutende Stilübungen platziert, die freilich weit mehr wurden. Nächstes Jahr dann wieder dieselbe Prozedur also. Freilich geht Kirill Petrenko, wie zu hören ist, zum Saisonauftakt mit seinem künftigen Klangkörper auch auf die kurze, traditionelle Festivaltournee. Da wird dann wohl zudem das übliche Saisonauftaktkonzert in Berlin mit dabei sein? Nach der Jahrespressekonferenz am 26. April wissen wir mehr!
Der Beitrag Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern: Selbst C-Dur klingt hier verschattet erschien zuerst auf Brugs Klassiker.