Er stammte aus einer berühmten Musikerfamilie, war ein Schüler von Jules Massenet, er leitete fast zwei Jahrzehnte als Nachfolger von Gabriel Fauré das Pariser Conservatoire, er war sogar ein Jahr lang Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra – aber heute kennt man seinen Namen nicht einmal mehr in Frankreich: Henri Rabaud (1873-1949). Er hat sogar einige Bühnenwerke verfertigt, von denen eine durchkomponierte Opéra comique unbedingt hörenswert ist: der 1914 uraufgeführte, mit zweieinhalb Stunden Spielzeit schlanke Fünfakter „Mârouf, Savetier de Caire“. Dieser ägyptische Schuster, der im Orient seine Liebes- und Lebensglück macht, stammt auf dem Höhepunkt auch der französischen Kolonialsehnsüchte motivisch aus den Geschichten von 1001 Nacht, ist einfach erzählt, aber von musikalischem Raffinement: mischt sich doch hier auf einzigartige Weise Spätwagnerismus mit Impressionismus, Exotismus mit einem guten Schuss Operette. Marc Minkowski hat jetzt eine Inszenierung der Pariser Opéra Comique von 2013 noch einmal an die Seine gebracht, nachdem er sie dort mit den Kräften der Opéra de Bordeaux wiederaufgenommen hat, wo er nun die zweite Spielzeit als Intendant wirkt.
Es beginnt mit einem schluchzend morgenländischen Oboenmelisma, dann klagt ouvertürenlos der sympathische Schuster Marouf (Riesenrolle, auch von dramatischer Durchschlagkraft, für den unermüdlichen Jean-Sébastien Bou) über sein schlimmes Schicksal: er ist mit einem zänkischen Weib verheiratet, wohl der bösesten Xantippe der Operngeschichte (Aurélia Legay singt diese Megäre entsprecht verkreischt spaßig), die ihm sogar fälschlich die Bastonade angedeihen lässt, weil er ihre Wünsche nicht erfüllt. Bis das mit viel Lärm und noch größerem Geschrei durchexerziert wird, hat sich die bis zur Brandmauer leere, nur mit kubische Rechteckhäusern als Stadtsilhouette von Olivia Fercioni ausgestattete Bühne längst mit buntem Bühnenleben gefüllt. Vor allem Vanessa Sanninos einerseits am Farbenrausch der Ballets russes orientierte, anderseits kunstvoll übertriebene Kostüme schaffen Abwechslung auf der kargen, durch die Choreografie von Franck Chartier hübsch belebte Szene.
Da gibt es einen Pâtissier mit Kirschkuchenhut und Fruchtepaulette, der dumm blökende Kadi (David Ortega) trägt seine Wage der Ungerechtigkeit gleich am Turban. Türkishäutige Wachen pflanzen sich auf, grüne Odalisken wackeln ballettös im Bassin, jeder der Marktleute hat sein Berufsaccessoire gleich an der Kleidung oder am Hut. Der Turban des Muezzin wird von einem Megaphon überragt, und auch die Matrosen im Ringelhemd präsentieren ein Minischiff auf dem Kopf. So verbreitet Regisseur und Ex-Comique-Intendant Jérôme Deschamps seinen grotesken Humor mit gekonnter Routine und naivem Erzählcharme bildlich wie gestisch.
Mârouf flieht vor seiner zänkischen Frau, wird in einer anderen, diesmal von gelben Würfeln situierten Stadt von einem Jugendfreund Ali (Lionel Peintre) erkannt und versorgt – und bekommt, misstrauisch beäugt von dessen ränkeschmiedenden Wesir mit Fuchskopf (Franck Legerinel), sogar die Tochter des örtlichen Sultans (hübsch aufgeblasen: Jean Teitgen) zur Frau – weil der pleite ist und Mârouf sich als reicher Kaufmann ausgibt, der auf seine Karawane wartet. Glücklicherweise wird diese samt auf den Wesir speiendem Kamel im rechten Moment, bevor es brenzlig wird und Köpfe rollen könnten, von einem netten Dschinn (Valerio Contaldo) aus einem rauchenden Höhlenloch herbeigezaubert, und alles löst sich in chorisch kräftig besungenes Wohlgefallen auf. Denn zufällig erweist sich die liebreizende, sehr komisch als rosa Pfirsichblüte entschleierte Sultanstochter Saamcheddine als dem mittellosen Mârouf zugetane Gefährtin (Vannina Santoni singt sie ganz liebreizend), die todesmutig zur Flucht bereits war.
„Mârouf“ ist eine seltsame, sehr vergnügliche Mixtur aus großem Chorfinale, durchaus auftrumpfender, heftig orchestrierter Lautstärke, kräftiger Typenkarikatur (von straussiger „Elektra“-Grellheit bei der fiesen Gattin), fein rhythmisierten Tänzen und einem schön schwelgenden Liebesduett. Erstaunlich, dass dieses Werk, einst uraufgeführt vom ersten Pelléas (die Partie schwankt zwischen Tenor- und Baritonlage) in der Titelrolle und vom ersten Arkel, später im Palais Garnier mit unter anderem Georges Thill weit über hundert Mal gespielt, an der New Yorker Met von Pierre Monteux herausgebracht, so vergessen wurde. Alles ist glücklich ausbalanciert, macht ohne zu viel Tiefgang mit Eleganz und Esprit den unterhaltenden Tugenden der französischen Oper alle Ehre. Und Marc Minkowski erweist sich wonniglich am Pult des Orchestre National Bordeaux Aquitaine als Spiritus rector dieser höchst erfreulichen Produktion, die lustvoll ideal mit einer bedeutsamen Opéra-comique-Rarität bekannt macht.
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