Das Gewandhausorchester ist im Reisemodus. Vorausgegangen waren dem in Leipzig mehrwöchige Einführungs- und Festwochen zum Antritt des 21. Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons sowie zum gleichzeitig begangenen 275. Geburtstag des ältesten bürgerlichen Klangkörpers der Welt. Und die frohe Botschaft soll jetzt auch in die weite Musikwelt, zumindest nach Europa getragen werden. Das freilich ist richtig stressig. Denn Gewandhausdirektor Andreas Schulz hätte diese erste Tour mit dem vielgefragten Dirigenten doppelt sooft verkaufen können, Anfragen gibt es die Menge. Und so wurden jetzt in 15 Reisetage 12 Konzerte in 11 Städten gepackt: Wien, München, Hamburg, Amsterdam, Brüssel, Baden-Baden, Köln, Dortmund, Luxemburg, Paris, Madrid. Und auch der Sachsen Tourismus hat seine Kultur- und Städtereise-Expertin mitgeschickt, schließlich reist man dorthin in hohem Maße der beiden Spitzenorchester in Leipzig und Dresden wegen. Zusätzlich war das doppelte Debüt in der Elbphilharmonie zu absolvieren, und direkt danach ging es weiter in den Amsterdamer Concertgebouw, wo man schon lange nicht mehr aufgetreten ist. Gerade der direkte Hörvergleich mit demselben Programm machte es wieder klar: Es gibt gute neue Konzertsäle mit fein ausanalysierter, aber eben auch etwas künstlicher Akustik und die alten, zu Recht berühmten hölzernen Wunderkisten, wo man alles intuitiv richtig gemacht hat und es ebenso klingt.
Auch der Concertgebouw, dieser legendäre, 1888 eröffnete Saal samt heutigem Juliana- und Beatrix-Foyer wurde, wie die Boston Symphony Hall, natürlich vom im zweiten Weltkrieg zerstörten Leipziger Gewandhaus inspiriert. Stets vom Neuem auffällig: Der Saal geht in die Breite, was ihm akustisch mehr Raum gibt, und das direkt aus dem Podium herausmarschierende Orchester ist sehr hoch platziert. Zudem ist dieses ein gewaltig mitschwingender Holzaufbau, in den auch noch die berühmte Treppe integriert ist, über die – Albtraum so mancher Künstler – man locker elegant zwischen Orgel und Publikum/Chor hinabsteigen muss und geschwind wieder zur Garderobe hinaufzusprinten hat, auf dass der Applaus nicht vorfristig ende…
Hier nun also klingt „Chiasma“, der etwas öde Thomas Larcher, gar nicht mehr so nach Uraufführungspflichtstück, sein wellenfömiges Gekräusel hat mehr Platz und Volumen, wirkt so wichtiger; auch das Akkordeon als Klangexotismus zeichnet sich distinguierter ab. Mozarts g-moll-Sinfonie nimmt Andris Nelsons deutlich schneller, Strukturen bleiben trotzdem plastisch, aber die softe Grundhaltung, wirkt immer noch rührend altmodisch. Das Stück perlt harmlos dahin, gewinnt so nie an Dringlichkeit.
Was dem Letten, nur flüchtig sich mit seiner mit rosa Merkzettelchen gespickten Taschenpartitur abgebend, in Tschaikowskys Pathétique vom ersten Takt an vollkommen gelingt. Da ist eine große, fast schon jenseitig wirkende Ruhe und Abgeklärtheit. Die glänzende Akustik schmeichelt den tiefen Stimmen, was besonders den Auftakt mit Bässen und Fagott zum fast körperlich spürbaren Hörerlebnis macht. Ruhig entwickelt Nelsons Bögen und Melodien, hört ihnen nach, lässt sich mit jedem Neuansatz Zeit. Auch der große Fortissimo-Tutti Ausbruch knallt nicht, sondern folgt organisch, geordnet, ein Aufschrei, von Fatalismus geprägt. Graziös, aber nie wirklich aufgehellt wiegt sich der merkwürdige Fünfvierteltakt-Walzer. Der dritte Satz wird als konzises Dynamik- und Rhythmikgebilde inszeniert, nie mit äußeren Effekten angereichert, stets von innen heraus organisch entwickelt. Nelsons nimmt sich dabei eher zurück, die Ausbrüche erfolgen kontrolliert und präzise gesteigert.
Schlicht geht es im Finale zu Ende, das verlöscht, lamentiert nicht. Und wieder lauscht man ruhig ergriffen dieser Todesmusik, bis der letzte Ton sich wölbt, dehnt und verschwunden ist, irgendwie noch nachwirkt, die oben gehaltene Dirigentenhand alle Atem und Applaus anhalten lässt. Da zeigt sich, wie symbiotisch diese Orchester-Chef-Beziehung schon seit 2011 gewachsen ist. Aber auch, wieviel Steigerung noch möglich ist. Möge der Tourneerest ebenso gut und glücklich weiterverlaufen.
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