Rechts, über der diesmal mit Bläsern gefüllten Königsloge, räkelt sich in der güldenen Wappenkartusche der Löwe von Brabant. Sind wir doch hier, im Brüsseler La-Monnaie-Opernhaus nur eine halbe Autostunde weg von Antwerpen und dem Ufer der Schelde, Schauplatz des „Lohengrin“-Geschehens. Doch Regisseur Olivier Py interessiert sich nicht so sehr für Lokalkolorit, ihm geht es mehr um Geistes- und Ideengeschichtliches in Wagners politischstem Musiktheater. Das erzählt er gleich, es ist Arte-Fernsehübertragung, selbst vor dem Vorhang. Wie sehr hat der Missbrauch der Nazis gerade dieses Stück als Ausdruck der deutschen Romantik geschädigt? Schließlich sei es kein nationalistische Werk, sondern eines über Nationalismus und Imperialismus. Die von ihm und seinem Dauerbühnenbildner Pierre-André Weitz in gewohntem Schwarzweißgrau gewählte Einheitsspielplatzmetapher füllt als angeknackst rauchdurchzogenes Theater auf dem Theater mit verkohlen Logen und zerborstenen Fenstern die Drehbühnen-Szene, es könnte freilich auch sein, dass dem Regisseur nichts eingefallen ist, dass er keine echte Haltung zu einem Stück entwickelt hat oder dass er sich nicht wirklich festlegen will.
Das will man bei Py gar nicht sagen, aber insgesamt ist sein in der Stunde Null angesiedeltes Wagner-Kammerspiel, welches alles Heroische und Märchenhafte, auch Martialische meidet dann doch etwas fantasielos geraten. Das Politische und das Private mag sich hier nicht so Recht fügen, wenn man doch wieder nur alte Stühle, Mäntel und Koffer sowie ein paar romantisch gemeinte Versatzstücke zu sehen bekommt. Jeder Protagonist steigt von der Rampe in seine Rolle, der ganz in Weiß gekleidete Knabe Gottfried taucht von Anfang an immer wieder auf, spielt mit Krone und Schwert, am Ende aber wird er als Leiche ausgewickelt. König Heinrich (unauffällig, etwas hohl klingend: Gábor Bretz) schreitet nobel in Grau einher, sein Heerrufer Werner van Mechelen (ordentlich) wirkt oberlehrerhaft im Bratrock, schreibt im Vorspiel zum dritten Akt – endgültiger Kehraus der deutschen Romantik – Paul Celans Todesfuge auf einen verschlissenen Mondscheinprospekt, sowie vorher schon Ortrud ihre Verwünschungsrunen auf eine gemalte Berglandschaft.
Lohengrin hat einfach nur einen schwarzen Mantel übergeworfen, ebenso Elsa, die Bösen und der Chor – Nachkriegstristesse eben. So wie zu Beginn des zweiten Aktes offenbar ein Schwarzmarktopfer in den Theaterumgängen gefleddert wird, bevor Ortud und Telramund ihre Ränke schmieden. Die beiden haben es eh in sich. Einerseits haben sie guten Sex, das hohe Paar ja bekanntlich nicht: Intrigen wirken offenbar als Aphrodisiaka. Anderseits besitzen sie – na klar bei den anvisierten Zeitumständen – eine üble Vorgeschichte. Beim wie stets als Mann sonst schwächlichen, nur den Baritonmund voll nehmenden Telramund (Andrew Foster-Williams meistert die Killerpartie ganz leidlich) bleibt das im Dunkel der Vorkriegsgeschichte, die bitchy Ortrud aber reckt als Zeichen ihrer entweihten Nazi-Götter eine Standarte mit dem (hakenkreuzlosen) Reichsadler. Die heidnischen Friesenidole sind hier also braun bekleckert. Die famose Elena Pankratova gibt die Megäre mit dem Furor eine Magda Goebbels, nur nicht ganz so glamourös. Die Reichshausfrau als Brunnenvergifterin, das macht Spaß, zumal da vokal auch die Post abgeht, die Töne gleißen, die Tiefe schön brustet.
Wenig vorhanden, darstellerisch wie vokal, ist Ingela Brimberg als passiv fahle Elsa, deren sehniger Sopran nicht nur emotionsgesättigt wackelt. Alles richten soll es Lohengrin, ein handfester Kerl, groß und zupackend, den der Rollendebütant Eric Cutler (interessant auch die ebenfalls erstmals die Rolle singende Zweitbesetzung mit Joseph Kaiser) robust und mit schönem Tenorstahl angeht. Die Gralserzählung, bei der er eine Pappkrone nach der andere ausprobiert, geht er mit zerbrechlichen Piani an, um sich dann vollstimmig zu steigern. Was ihm fehlt ist der transzendent sphärische Anteil des Schwanenritters – aber wo soll der herkommen, wenn ihm als Transportmittel in der Auftrittsszene nur ein paar weiße Federn und ein von innen leuchtender Dokumentenkoffer bleibt, dessen Bedeutung nie klar wird? Das Gottesgericht wird effektvoll als Duell zwei Schachspieler inszeniert. Und natürlich gewinnt der weiße König. Ein halbnackter Muskelmann gibt mit Rolle rückwärts und gereckter Rechten den Breker-Übermenschen, Gottfried schaut interessiert zu. Der Gang zum Münster endet im Ascheregen unter einem herabschwebenden Theaterportikus-Modell, die Kirche wird zum zitierten, ebenfalls heidnischen griechischen Tempel.
Trümmerfrauen singen dann das plötzlich sehr doppeldeutige „Treulich geführt…“, Elsa und Lohengrin enden in einem Brautgemacht als Requisitenkammer: zwischen kaputten Pferden, Schwänen, Beethoven- und Goethe-Büsten wird per Namensschild mit „Heine“, „Weber“, „Schlegel“ (auch jüdische) deutsche Innerlichkeit beschworen. Am heillosen Ende triumphiert Ortrud.
Und ein andere trägt ebenfalls einen wundervoll tönenden Sieg davon: Monnaie-Musikdirektor Alain Altinoglu, mit diesem Werk sogar Bayreuth-erfahren, dirigiert diesseitig, straff, lässt die Musik sich in schönsten Bögen wölben, mag es durchaus laut, nie krachig, die Chöre kommen in dem vergleichsweise kleinen Theater präzise, mit plastischer Durchschlagskraft. Er hat die Farben und Schattierungen, die die Inszenierung verweigert. Warum aber sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft nach dem Weltenbrand ausgerechnet mit „Lohengrin“, diesem im Grunde pessimistischen Stück, wo noch nicht einmal der Glaube der Liebe hilft, im Opernspiel ihrer verlorenen Werte versichern will, diese Frage beantwortet auch diese glänzende Klangleistung nicht.
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Der Beitrag Entweihte Nazi-Götter: Olivier Pys Brüsseler „Stunde Null“-Lohengrin erschien zuerst auf Brugs Klassiker.