Melancholische Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande: Ein letztes Mal geht es vom Bahnhof Wolfsburg über Brücke und Autostadt-Empfangshalle, Verkehrskindergarten und die Mittellandkanal-Pontons hinüber zum VW-KraftWerk, den stillgelegten Teil des Backstein-Powerhauses, mit den vier weithin sichtbaren Schornsteinen. Über Blechtreppen zwischen den Betonpfeilern erklimmt man das Foyer, wo noch die Maschinen neben den Bars stehen und Wasser künstlerisch über buntbeleuchtete Ketten läuft. Dann durch die schwarzen Eingänge zur ganz auf die Kunst konzentriere Bühne, dorthin, wo seit 15 Jahren mit Hilfe eines Autokonzerns die großen und berühmten zeitgenössischen Tanzkompanien der Welt immer im April und Mai ein temporäres Zuhause gefunden haben. Und hinterher in die schicke Lounge zu veganen Quiches und selbstgemachtem Eis. Damit ist nun Schluss, zumindest an diesem Ort. VW braucht auch die zweite Kraftwerkshälfte wieder als neu konzipierte, umweltfreundliche Energiequelle, die temporär schöngeistige Nutzung ist also ab 2019 vorbei. Das freilich trifft die Movimentos Festwochen in einem heiklen Moment.
Die ursprüngliche Führungsspitze, die das Tanz-, Musik- und Literaturfest mit schnell überregionaler Ausstrahlung als inhaltlichen Plus-Twist zum Autoweltthemenpark erdacht hat, ist nicht mehr dabei. Die neuen Chefs wollen zwar weitermachen, aber wie, das ist noch nicht klar. Wird das schöne, eigens renovierte Hans-Scharoun-Theater in der Stadt miteinbezogen, was gibt es noch für Industriehallen in Wolfsburg? Sicher wird Movimentos, geht es denn überhaupt weiter, kleiner, dezentraler, aber dafür wohlmöglich experimentierfreudiger werden.
Zwar ist noch am 5. und 6. Mai die brasilianische Grupo Corpo mit einer Europa- und einer Deutschlandpremiere zu erleben, aber irgendwie setzte den inhaltlichen Schlusspunkt jetzt schon ein anderer regelmäßiger Gast – der wundervolle Lin Hwai-min mit seinem Cloud Gate Dance Theatre. Der mit flinken Augen alles registrierende Taiwanese, dem man seine 71 Jahre keinen Moment ansieht, will ebenfalls seine Truppe bestellen, das jetzt als Europapremiere gezeigte „Die Insel – Formosa“ soll seine letzte Choreografie sein. Ende 2019 möchte er die Haupttruppe und die Junior Company sowie das neu erbaute Theater am Rande Taipehs in andere Hände übergeben. Danach will der choreografische Autodidakt, der mit seiner weltweit gefeierten, in der Heimat kultisch verehrten Kompanie eine sehr besondere Mischung aus Ballett, Tai-Chi, Martial Arts und fernöstlich harmonischer Poesie geschaffen hat, sich wieder seiner eigentlichen Profession als Literat widmen.
Und so ist das seiner Heimat gewidmete Werk, die portugiesischen Entdecker nannten die Insel „die schön Geformte“, auch ein Stück der Rückschau geworden. Auf die eigene Insel, es gibt Anspielungen an indigene Tänze, und die bewegte Geschichte mit Kriegen und Liebe, mit der Urbarmachung des Landes, mit dem Spiel der Natur, der Elemente und Jahreszeiten. Erde, Feuer, Wasser und Luft scheinen nicht zum ersten Mal in diesem Oeuvre auf, die 18 Tänzer in ihren pastellfarbenen, weich fallenden Overalls verkörpern das auf die gewohnt schwerelose, dabei höchst präsente Art; besonders fein in ihrer nie mechanischen Präzision.
Da gibt es gleich zu Anfang ein langes Solo, es folgt ein komplex einfacher Pas de Deux von höchster Harmonie, später schlachtenartige Kumulierungen. Das Bühnengeschehen ist freilich verwoben mit den wieder höchst eklektisch gemischten Klängen von Kaija Saariaho, Gérard Grisey, Liang Chun-mei und des Sängers Sangpuy Katatepan Mavaliyw. Die wiederum werden verknüpft durch die selbst schon wie Musik gewordene Rezitation von Chiang Hsun. Zu einer hochkomplexen und doch wohltuend einfach anzusehenden Collage wird solches durch die nur aus Kaligraphien bestehenden Videos, die doch auch zu schwarzen Bomben, zu Wellen und Blüten werden können, den dreidimensionalen Raum zum Fliegen bringen – mit den Tänzern darin. Man muss die genau Bedeutung dieser Anspielungen und Zeichen gar nicht erkennen, jedem Betrachter erschließt sich auch so eine Geschichte. Die auch eine Art Retrospektive der Kunst des Lin Hwai-min ist. Vieles dünkt bekannt, scheint als Reverenz auf, er versichert sich hier im generalisierten Blick auf sein Land noch einmal seiner eigenen künstlerischen Existenz, den Ritualen und der Geschichte, die ihn geprägt hat, die wie Taiwan, aber auch immer mehr globalisiert beeinflusst wurden. Eine Erinnerung in Bild, Bewegung, Klang. Gefasst, frohgemut, nach vorn gewandt.
Mit seinem fünften Auftritt bei Movimentos hat das 1973 gegründete Cloud Gate Dance Theater sich also nun von hier verabschiedet. Und wir warten, ob und wie es 2019 am Mittelandkanal weitergeht.
Der Beitrag Letzter Vorhang im KraftWerk: Cloude Gate Dance Theatre mit „Formosa“ bei Movimentos erschien zuerst auf Brugs Klassiker.