„In mir klingt ein Lied“. Das ist zwar ein besonders schrecklicher, über Chopins Etüde in E-Dur gelegter Wunschkonzertschlager, aber immerhin wurde der sentimentale Text vom „Sissi“-Regisseur Ernst Marischka verfasst und der hatte eine soliden Operetten-Hintergrund. So war der Titel auch ganz richtig gewählt für ein ziemlich klarsichtiges, auch ein klein wenig Herzschmerz zulassendes Operetten-Pasticcio, das ausgerechnet der sonst so trocken konzeptstrenge Regisseur Claus Guth 2007 am Münchner Gärtnerplatztheater sehr zart servierte. Und so unverhofft seine durchaus vorhandene Liebe zum eigentlich „verbotenen“, zumindest abschätzt betrachteten Tralala-Genre bewies. Elf Jahre später – die Operette hat sich längst wieder als geistvoll-freche Hauptstadt-Unterhaltung etabliert und emanzipiert – folgte jetzt an der Oper Frankfurt Claus Guths, selbstredend mit eine weiteren Ebene ausgestatte Sicht auf die Königin der Gattung: Franz Lehárs „Lustige Witwe“. Die immerhin hat an diesem Haus Tradition, war hier schon Christoph von Dohnányi als dirigierender Gatte Anja Siljas Tanzkavalier, und vor 18 Jahren ließ Peter Mussbach die Grisetten in schönstem Schwarzweiß-Art-Déko tanzen.
Claus Guth süffiger und schlüssiger Zugang hat jetzt zwei Vorbilder: Bereits Harry Kupfer hatte seine 1986 schnell wieder vom Politbüro aus dem Publikumsverkehr gezogene „Witwe“ an der Komischen Oper in ein Ufa-Filmatelier verlegt, wo mit Operetten-Sein und -Schein gespielt wurde, freilich mit viel ärgeren politischen Konsequenzen. Und dann ist da auch noch „Kiss me, Kate“, Cole Porters dauergrüner Musical-Hit, wo ein zerstrittenes Schauspielerpaar backstage die Fetzen fliegen lässt, wie schon auf der Bühne in Shakespeares „Widerspenstiger“. Das also wurde in einem von Christian Schmidt auf die Drehscheibe gezauberten Filmatelier samt Doppelgarderobe zu einer gekonnten Melange verrührt: „Kiss me, Hanna“ von Cole Lehár.
Wir schreiben freilich die Fifties, da ist unpolitische Unterhaltung angesagt. Und so bleibt das ewige Pulverfass Balkan inhaltlich hübsch draußen. Pontevedro, jenes Operetten-Äquivalent zum explosiven Montenegro, liefert hier beim landestypischen Tamburica-Fest im zweiten Akt nur Cymbal-, Gitarren- und Lautenklänge sowie viele Folklorekostüme (ebenfalls von Schmidt), in denen Choreograf Ramses Sigl sich mit erstklassig gefälschten Tänzen vor einem künstlichen Sonnenuntergang austoben darf. Der namenlose Regisseur (Klaus Haderer könnte mit seinem österreichischen Akzent durchaus auch Marischka meinen), der auch den Spielmacher Njegus gibt, hat alle Hände voll zu tun, seine emotional aufgewühlte Truppe zusammenzuhalten; wobei Guth die Dreharbeiten nie zu realistisch nimmt, sie sollen nur die Klammer für die zweite Bedeutungsebene bilden.
Die zeigt nämlich ein eher verzweifelte Frau. Geht der Vorhang auf, noch vor der Ouvertüre, die Joana Mallwitz mit Schmackes aufblitzen lässt, dann singt sich da eine einsame Diva in ihrer kahlen Garderobe ein, bevor sie gleich wieder ihr Glamour-Lächeln anknipsen wird. Marlis Petersen hält diese eleganten, aber eben auch elegische Figur ganz wunderbar in der Schwebe, ist hochaufragend in schwarzer Robe als Ballkönigin und zerbrechlich im Negligee, wenn sie am Ende merkt, dass der Mann, den sie immer noch liebt und der jetzt ihren Danilo spielt, nichts mehr von ihr wissen will. Und sie singt diese gebrochene Figur auch entsprechend: mit fadenfeiner Höhe, irreal schwerelos, und dann doch wieder mit realistisch zupackendem Klang, wenn neuerlich, hysterisch überdrehte, große Tanzrevue mit Chor und Ballett angesagt ist.
Großartig ist auch Iurii Samoilov als baritoncremiger Strizzi im Frack, ein Frauenverführer und -verächter, der hauptsächlich vor sich selbst ins Maxim flieht, obwohl er doch nur Hanna lieben müsste. Aber seine Lippen schweigen, nur die Taten sprechen Bände. Und den man trotzdem gern haben muss. Weil er so viel zerquält kerlige Leidenschaft versprüht und die in samtigweiche Töne gießt. In der Operette gibt es ein Happy End, aus dem nicht vorhandenen echten (das natürlich auch nur fingiert) ist, wird diesmal aber nicht abgeblendet. Walzerspaß und Verzweiflungstanz, äußerliche, ja groteske Pose vor der Kamera und heulendes Elend auf der Couch liegen hier, in dieser ein wenig surreal verlangsamten (Kulissen-)Welt der seltsam gedeckten Farben und düsteren Ecken, sehr nah beisammen.
Was auch im Orchestergraben sein genau ausbalanciertes Audio-Äquivalent findet. Joana Mallwitz kann es präzise zackig, ja grell knallig, sie lässt aber auch fein abgeschmeckt die Geigen schmalzen und walzerselig schluchzen, das Holz dudeln, dass es eine intelligente, klangfeine Operettenfreude ist. Ja, und bisweilen scheint gänzlich die Zeit stehen zu bleiben, nur ein überlautes Metronom lässt die die Sekunden vertickern….
So wechseln sich gespielte Partyausgelassenheit und Herzeleid ab, wobei Guth sein Hauptaugenmerk auf die Diva und den Bonvivant lenkt, sie immer wieder auch zwischen Filmgesangsnummern, Probensprechszenen und plötzlich aus dieser Situation sich als echter Gefühlsausbruch erweisende Vokalentäußerung switchen lässt. Aber schon beim Buffo-Paar verwischt sich das: Martin Mitterrutzer bleibt als Rosillon nur der ölige Frackträger mit geschmeidigem Tenor, und Elizabeth Reiter muss ihre Valencienne mit grotesker Fröhlichkeit als brachialknallige Soubrette markieren, obwohl auch hier neben den Rollen Anziehungskräfte wirken; die aber nicht weiter verfolgt, oder als bruchhafter Kontrast zum Hauptpaar eingesetzt werden.
Trotz solcher kleiner, konzeptueller Schwächen: Diese Frankfurter Operetten-Inszenierung rangiert weit, weit über dem Dreiviertel-Takt-Durchschnitt hierzulande, obwohl es eine eher melancholiesatte statt lustige „Witwe“ geworden ist. Was bei Claus Guth aber niemand verwundert.
Der Beitrag Frankfurt, Claus Guth und die Operette: „Kiss me, Hanna“ von Cole Lehár erschien zuerst auf Brugs Klassiker.