Alles wie immer. Es ist Mai. In Wuppertal scheint die die Sonne. Und im Opernhaus Barmen sitzt eine international durchmischte Zuschauermenge erwartungsfroh für die Premiere eines neuen, wie stets bei der Ankündigung noch namenlosen Opus des Wuppertaler Tanztheater. „Neues Stück“ von…ja, eben nicht mehr Pina Bausch. Die Prinzipalin ist seit neun Jahren tot. Doch die Mitglieder ihrer Truppe, nunmehr wie einst eine Ostkolchose Tanztheater Wuppertal Pina Bausch geheißen, sie machen immer noch, was sie am besten können, sie tanzen und spielen weiter, weltweit werden sie nach wie vor mit dem riesigen, in 36 Jahren angesammelten Repertoire der Chefin eingeladen und gefeiert; auch in Wuppertal gibt es immer noch stets ausverkauftes Haus. Einige Leitungen haben sich in dieser Zeit abgewechselt, man hat den Bestand bewahrt, das Ensemble vorsichtig verjüngt, vor drei Jahren den ersten, leider nicht sonderlich gelungenen Versuch einer dreiteiligen Uraufführung mit weitgehend unbekannten Choreografen gewagt. Berühmte Namen wollen sich an dieser nach wie vor stark strahlenden Marke nicht den Mund verbrennen. Aber natürlich muss es weitergehen. Man wollte ja nicht zum Museum erstarren, auch wenn dieses Welterbe inzwischen von einer Stiftung bewahrt wird, die im ausrangierten Schauspielhaus, ebenfalls ein legendärer Bausch-Uraufführungsort, ihre Heimat haben wird. Deshalb hat man letztes Jahr die international bestens vernetzte Adolphe Binder als erste Intendantin geholt. Auch sie hat neue Tänzer engagiert, insgesamt 36 sind es jetzt, darunter immer noch einige der Wuppertaler Ikonen der ersten und zweiten Generation. Und sie hat, am Ende ihrer ersten Spielzeit zwei international koproduzierte Premieren angesetzt, mit jeweils der Hälfte der Truppe, abendfüllend, mit in Deutschland noch nicht vertrauten Choreografen.
Von links stellt der neuerdings bärtige Michael Strecker einen Stuhl auf die dunkle, hinten von einem schwarzgrauen Berg aus Schaumstoffmatten vor einem oszillierend weißen Horizont begrenzte Bühne (von Tina Tzoka). Und noch einen, und noch einen, so bewegt sich schließlich das gesamte Ensemble von 17 Tänzern ganz langsam und Stuhl für Stuhl auf diesen balancierend und immer von hinten durchreichend der Rampe entlang. Auch dieser Auftritt könnte von Pina Bausch sein. Ist er aber nicht, sondern von Dimitris Papaioannou. Der ist Grieche, in seiner Heimat eine Berühmtheit, er, der auch der malt, Comics zeichnet, Bühnenbild, Kostüme und Licht designt, selbst auftritt und Regie führt, hat 2004 die Eröffnung der Olympischen Spiele in Athen gestaltet, von den internationalen Festivals, von denen einige der üblichen Global Player als Scouts da sind, als hot ticket eingestuft.
Und Papaioannou verehrt Pina Bausch, das ist in jedem Moment dieses für Wuppertal mit 80 Minuten ungewöhnlich kurzen, düsteren Stückes zu bemerken. Das ist eine Hommage für Pina B. geworden. Ganz ehrlich und puristisch. Obwohl er sonst anders arbeitet. Aber es ist wohl nur so möglich, den Neunanfang zu wagen. Noch einmal Bilanz ziehen was, war die Bestände durchgehen. In vier Wochen folgt auch deshalb schon die nächste Novität des norwegischen Dramatikers und Regisseurs Alan Lucien Øyen. Groß und durchaus drückend sind hier also die Schatten der Vergangenheit, denen man sich jetzt, nach notwenigen Jahren des Verharrens aber gleichzeitig auch der Pflege des Repertoires und des Einspielens einer weiteren Darstellergeneration, offensiv stellt. Indem man (noch) einmal das Instrumentarium der Gründerin auslegt und ausprobiert, überprüft, variiert. Es wird in dem nunmehr „wenig getanzt, aber viel Situatives ausprobiert, Komisches, Nachdenkliches, Albernes. So war es immer.
Und natürlich ist es anders. Schon weil hier viele neue, schöne, interessante Gesichter und Persönlichkeiten im wie immer wundervollen Ensemble auszumachen sind. Und weil Papaioannou es nicht wirklich schafft, in seinem dann doch auf dem Programmheft mit dem Titel „Seit sie“ versehenen Werk Assoziationen und Bestandteile zu einem echten Stück zu verpacken. Es fehlt zwischen all den bekannten Requisiten und Anspielungen auch die bisweilen sinnfreie Heiterkeit der späten, gelasseneren Pina Bausch. Also werden hier – „seit sie“ weg ist wohlmöglich – noch einmal, von Herrn im Anzug und Damen in langen, diesmal nicht bunten, sondern schwarzen, goldenen oder hautfarbenen Kleidern (von Thanos Papastergiou), scheinbar und sattsam bekannte Wuppertaler Situationen und Konstellationen durchprobiert, man erzählt sich meist nonverbal kleine Geschichten, baut Aktionen. Auch die Musikliste von Wagner über Ives, Bach, Mahler, Verdi, Tom Waits und Bouzoukis, könnte noch von Pina Bausch stammen. Man hört freilich kaum etwas davon. Das stumme Bild dominiert.
Da wird mit Pappröhren gekämpft und madonnenhaft auf dem Berg geschmachtet. Eine Frau wird mit Blättern umhegt, eine andere schleppt gleich ein Bäumchen. Es gibt ein wenig Nacktheit, mit der man spielt, eine Widdermaske und fremde, unter einem Papprock tanzende Füße. Da wird das Becken geschlagen, an Haaren gezogen, ein Braten gegrillt, an einem Küchentisch hantiert, Walzer getanzt. Christliche Metaphern werden beschworen, Frauen und Männer bekämpfen und lieben sich, ein paar steht da, nur durch gebogene Hölzchen verbunden. Oft aber wird auch im Halbdunkel verharrt und verweilt. War da was? Es scheint fast so, als müssten sich die wunderfeinen Akteure noch einmal ihrer (bisherigen) Existenz versichern, bevor sie zu neuen Ufern und Taten aufbrechen können.
Zum Ende hin wird es immer dunkler und leiser. Und so wie am Anfang Scott Jennings mit einem Stuhl auf dem anderen balanciert hat, so sammelt jetzt wiederum Michael Strecker, neuerlich auf einem Stuhl stehend, die um ihn herum befindlichen ein. Ganz langsam türmen sie sich zu einem Stuhlgebirge auf seinem Rücken, machen den Mann darunter unkenntlich, bis er langsam unter ihrem Gewicht zusammenstürzt. Währenddessen rollt Ruth Amarante dahinter auf den Pappröhren stehend und schwebend davon und doch nicht weg. Ein Paar bei der Sisyphos-Arbeit, nicht mehr von Pina Bausch, aber von wem? Und wo wird es hinführen? Ein Wuppertaler Neuanfang, ein vorsichtiger als so nostalgische wie auch epigonale Rückschau, ist jedenfalls gemacht. Der – wie immer – bejubelt wurde. Doch ein radikaler Aufbruch muss unbedingt folgen.
Der Beitrag Sie ist dann mal weg: Beim Wuppertaler Tanztheater wagt Dimitris Papaioannou den Neuanfang nach Pina – mit Pina erschien zuerst auf Brugs Klassiker.