Die Geister der deutschen Vergangenheit, die Gespenster am toten Mann, sie kehren gerade in Lyon wieder. Während man sich zwischen Berchtesgaden und Flensburg auf den Theaterbühnen eher weniger für Heiner Müllers früher vielgespieltes Dramen- und Collagenkonglomerat „Germania Tod in Berlin“ samt der nach der Wende noch nachgeschobenen Fortsetzung „Germania 3 Gespenster am toten Mann“ interessiert, eroberte im Rhônetal dieser Gruselschinken aus den Jahren 1956-96 nun die Opernbühne. Wobei sich der ebenfalls Diktatorenerfahrung nicht fremde russische Komponist Alexander Raskatov (Jahrgang 1953) für sein selbst zusammengestelltes „GerMANIA“, einen pausenlosen Zweiakter in zehn Szenen von 105 Minuten Spielzeit, 42 Rollen für 16 Stimmen plus Chor vornehmlich aus dem dritten Heiner-Müller-Teil bedient hat. Und nicht nur ein im Falsett vollaussingender Hitler und ein grausam-gemütlicher Stalin als basso cantante bevölkern hier die Einheitsszenerie eines an die KZ-Kleiderberge gemahnenden Stoffhaufenhügels, auch ein guter alter Raskatov-Bekannter ist wieder da: ein Hund, diesmal lebend, brav und gut dressiert, dem es auch auf der ständig kreiselnden Drehbühne nicht schlecht wird. In Raskatovs erster, in Amsterdam uraufgeführter, ebenfalls von Lyon koproduzierter Oper nach Michail Bulgakow „A Dog’s Heart“ die ihn international bekannt machte, waren es in der kongenialen Regie von Simon McBurney hautsächlich mechanisch konstruierter Vierbeiner.
Jetzt treten passenderweise gleich zu Beginn Thälmann (Michael Gniffke) und Ulbricht (Ville Rusanen) mit Hund auf, die in Berlin ihre „Nächtliche Heerschau“ halten. Ja, ja, „Das Mausoleum des Deutschen Sozialismus. Hier liegt es begraben“, und schon hat uns Müllers Düsteres raunende, rhythmische Sprache wieder – die sich extrem gut für die Oper eignet. „Unsre Menschen, Fickzellen mit dem Bildschirm vorm Schädel, Den Kleinwagen vor der Tür“, da ist er sofort, als wäre er nie weg gewesen, dieser eigenwillig uns davon tragende Sound. Und die Musik für das mal im Parlando, mal expressiv und grotesk klangagierende Ensemble, sie wirkt pointilistisch und brutal, wie ein zerschepperter „Wozzeck“, rummelplatzbillig, lärmig, mit E-Gitarre und Zymbalon, aber eben auch intensiv und leidensgepresst. Sirenen, Schüsse, Trillerpfeifen alles dabei, auch fein ausschwingende Jazzflächen.
Das robbt sich in die polystilistische Moderne, während zunächst auf der immer wieder als Projektionsfläche fungierenden Courtine nicht nur die Zeiten und Orte aufscheinen und verlaufen, sondern auch von oben, die noch verborgene, grünlich-glibberig ausgeleuchtete Bühne per Kamera gezeigt wird: die Mauer, an der immer wieder Republikflüchtlinge abgeknallt und verprügelt werden. Der sozialistische Schutzwall als Grabort.
Regisseur John Fulljames, die für das sich drehende Einheitsdekor verantwortliche Magda Willi und der Kostümbildner Wojciech Dziedzic vermeiden dabei die abgegriffenen und bekannten Symbole, kein Hakenkreuz und kein Davidstern, Hitler ohne Bart, der deutsche Gruß nur dezent, KZ- wie Gulag-Insassen in schmutziggestreift. Sie bleiben bei ihrem schlaglichtartig zerfetzen Geschichtsreigen, der sich nie zur satirisch grellen Revue weitet, seltsam brav, dafür aber konzentriert bei der Sache. Und diese ist ein Strudel der Scheußlichkeiten, wenn da drei Frauen greinen, nornengleich, fast versunken in den stoisch kreiselnden Haufen, nur Gesichter und einzelne Gliedmaße sind noch zu sehen. Durch ihren expressiven Gesang aber sind sie weit eindrücklicher als in der gleichen Schauspielszene.
Eine Oper in der klanglich lärmigen, laut lachenden Tradition von Schostakowitsch wie Schnittke über das politische Scharnier des 20. Jahrhunderts, totalitäre Regime des Nationalsozialismus wie des Kommunismus, am Schauplatz Deutschland, deren Sprache und Ideologie alles durchträufelt. Ein teutonisches Panorama vom Ersten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer; mit anonymen Soldaten und Gefangenen, Goebbels und Gagarin und den Nachwende-Triebtäter Rosa Riese aufbietend; ein Totentanz mit Trotzki und Tovarich und Offizierswitwen als zerfetztes Mosaik und bröselndes Fresko, als Tragödie und Farce; expressiv grauslich, komisch; in dem Mozart und Wagner zitiert werden, die Internationale als Fanfare ertönt und gleich wieder zerbrochen wird, in der Musik aber auch melancholisch klagt und ortlos irrt – freilich perfekt zusammengehalten und mit Aplomb ausgebreitet von dem versatilen, vitalen Alejo Pérez, der hier auch akustisch die Frage nach der Macht und ihrer Konsequenz für die Geschichte stellt.
Auch gesungen ist das packend und vokal extrem fordernd in Deutsch, Russisch, Französisch und Hebräisch: von James Kryshak als schrillem Hitler-Geist wie hysterischem Tenorbuffo und von Genadii Bezzubenkov als bösgemütlichem Russenbär Stalin, der seinen Bass nochmal nach untern orgelt. Beide speisen sich aus demselben Tonmaterial. Und von den drei graugefärbten Diven Sophie Desmars, Elena Vassilieva und Mairam Sokolova als Nazi-Sirenen, die auch ganz wunderbar sind als drei Brechtwitwen, während einer probeliegt im leeren Sarg des aus dem Off tönenden Dichters.
Heiner Müller bekennt sich als ein Schreckens-Beschreiber. Als Chronist aus einem Schlacht-Totenhaus, und dem kaputten Walhall der Reichskanzlei als Reporter der deutschen Bruderkämpfe, der gegenseitigen und der Selbst-Zerfleischungen. Seine polemische Selbsterforschungen haben in dieser manischen „GerMania“, der deutschen Sucht, ein auch klanglich wütendes Äquivalent gefunden. Müller und der bitter schwarzhumorige Raskatov, der diese Oper „der Erinnerung an all die ruinierten Seelen“ widmet und der sie als Auftakt begreift, sich auf ähnliche Art wie der Deutsche mit der russischen Geschichte auseinanderzusetzen, höhnen alle Tugenden, die von den Nationalideologen als der deutschen schönste gefeiert worden sind: Treue, Gehorsam, Pflichterfüllung, Mannesmut und Ritterlichkeit. Ihre wahre Fratze: die des Bluthundes, der hier freilich gut trainiert auf leisen Pfoten herumtappt.
Und sich im Marschrhythmus und Tritonus, der Operette, dem „Heil Hitler“-Sextett der toten Mörder und Schreibtischtäter, wie dem Auschwitz-Requiem, das am Ende aus zerbrochenen Gesängen angestimmt wird, wiederspiegelt. Während der Kosmonaut neben Sputnikschrott durch den Weltraum schwebt. Die Opéra de Lyon hat mit diesem, auf Anregung von Intendant Serge Dorny entstandenen düsteren deutschen Delirium neuerlich einen bedeutenden Beitrag zur politischen Musiktheatergeschichte des 21. Jahrhunderts geleistet.
Der Beitrag Packendes deutsches Delirium: Alexander Raskatovs „GerMania“ nach Heiner Müller in Lyon uraufgeführt erschien zuerst auf Brugs Klassiker.