Amsterdam, Cardiff, Basel, Augsburg, Zürich, bald London, Frankfurt, Paris. Und jetzt seit längerem auch mal wieder die Dresdner Semperoper, wo 1926 eine bedeutende Produktion unter Fritz Busch in der Übersetzung Franz Werfels die deutsche Verdi-Renaissance beflügelte. Die lange despektierlich betrachte „Macht des Schicksals“, als Verdis 24. Oper 1866 als Auftrag des St. Petersburger Marienteaters komponiert, wird wieder deutlich öfters gespielt. Kein Wunder: eine dysfunktionale Familie, Krieg, Schuld, Rache, Rassismus, übersteigerte Religiosität, das sind alles Themen unseren Zeit. Zudem verpackt als wild Haken schlagendes Stationendrama zwischen Schlachtfeld und Klause, Adelssalon und Dorfkneipe mit einer surreal vom Zufall vorangetriebene Handlung, das mutet modern an, das liebt das Regietheater. In einer dramaturgischen Irrfahrt ohnegleichen geht es über spanische wie italienische Schauplätze und durch Handlungsstränge, Protagonisten verschwinden und tauchen Akte später wieder auf, die Figuren führen keinerlei Entwicklungen vor. Hier lodern und wabern nur emotionale Extremzustände aus Liebe, Angst, Hass und Mordlust, gewürzt mit katholischer Verzückung und ewigen, ekstatisch gen Himmel gewendeten Anrufen an Gott und die Jungfrau Maria in Verklärungsgloriole, die solche Erdentrübheit nur noch schwärzer erscheinen lassen.
Leider verlangt Giuseppe Verdi dafür einen gewaltige Aufwand an Personen und Maschinen, außerdem mindestens sechs superbe Sänger, damit es auch vokal Spaß macht. Denn sein übliches Hass-Liebe-Dreieck, hier Sopran und Tenor, sowie ihr dazwischengehender Bruder, ist diesmal zum Sextett erweitert um den salbadernden Bass-Klosterprior als Trost spendender Ersatzvater (kann – wie hier – auch vom echten, schnell vom Tenor erschossenen gesungen werden), dem als Gegenstück sein auch mal fluchender Schließer Melitone gegenübersteht sowie die markentendernde Zigeunerin Preziosilla, eine seltsam sarkastische Memeto-Mori-Figur. Da ist viel Musik drin.
Die in Dresden nur teilweise zum Klingen gebracht wurde. Allen voran aber vom dynamisch vitalen, schneidend scharf, dann wieder wollüstig weich die großen verdischen Melodienlinien aussingenden Mark Wigglesworth am Pult der glorios aufspielenden Sächsischen Staatskapelle, die sich dieser ihrer Verdi-Tradition wieder einmal mehr als würdig erwiesen hat. Die breit angelegte Ouvertüre gibt es freilich erst vor dem zweiten Bild als Umbau- und Umzugsmusik während der die Protagonisten sich verkleiden, versuchen andere zu werden, umso dem durch den unbeabsichtigten Mord ausgelösten Fatum zu entgehen. Jörn Hinnerk Andresen hat den Sächsische Staatsopernchor prachtvoll studiert, zum Spielen kommt er kaum.
Dabei wird auf Bühne, was ja heute nur noch selten geschieht, von Keith Warner die pseudohistorische, hier etwa in den Kostümen Thilo Steffens um 1800 angesiedelte, zwischen Spanien und Italien pendelnde Handlung einigermaßen akribisch nacherzählt. Dafür hat ihm Julia Müer hinten ein zweistöckig klassizistisches Haus gebaut, das – wenn eine Ecke auseinanderklappt oder hochgezogen wird – als Halle, Hauptquartier, Hospital und zerschossenes Kloster fungiert, davor laufen zwei mal schwarze, mal weißen Wege überkreuz: Hier also entscheiden sich die Schicksalslinien; zusätzlich betont durch eine Madonna und einen Inka, Europa und Südamerika, die Heimat des letzten Mestizenprinzen Alvaro stumm durch die Szene wandeln. Da wird wacker gesoffen und gefochten, geküsst und verflucht, verteidigt und ermordet. Doch den gerade bei so viel Fanatismus wohlmöglichen Link ins heutige, zeitgenössische Dresden, den mag der brav seine Personen führende Warner nicht legen. So bleibt es beim doch einigermaßen ferngerückten Historienspektakel, wo Verdi doch weit zynischer und direkter auch in dem spanischen Mysterienstück die Tendenzen seiner Zeit kritisierte.
So haben die Sänger diesmal viel zu schultern. Wunderbar füllig, aber gar nicht salbadernd offenbart Stephen Milling als Padre Guardiano die leeren Trostrituale der Kirche, während der wendige Pietro Spagnoli als Fra Melitone eine zweifelnde, spinozahaft scharfen Kritiker gibt. Die Dienerin Curra kehrt ebenfalls als Preziosilla wieder, doch Christina Bock fehlt es an Mezzogrellheit und Volumen für ein raumfüllendes „Rataplan“; sie bleibt als harmlose Außenseiterin nicht nur stimmlich außen vor. Emily Magee taucht seit Jahrzehnten auf den Spielplänen erster Häuser auf, ohne es je wirklich zum Star gebracht zu haben. Ihr fehlt es an persönlichem Charisma und vokaler Identität, doch singt sie respektvoll stilsicher und mit einigermaßen langem Atem die nur nicht gerade einfach zu bewältigende Leonora. Gregory Kunde, im siebten Lebensjahrzehnt stehend, glänzt mit immer noch gewaltiger Durchschlagkraft in der Partie des fies liegenden Alvaro, hat auch Pianoreserven und ein strömendes Legato; auch er ist der größte Schauspieler nicht. Das übernimmt – man spielt natürlich die spätere Mailänder „Forza de Destino“-Fassung von 1869 samt einem zusätzlichen, sonst meist gestrichenen Männerduett – Alexey Markov als dumpf rachebrütender Don Carlo, der trotzdem schöne Baritonspitzentöne und eine sehrende Leidenschaftlichkeit in seine gänzlich unsympathische Rolle trägt. So triumphiert in Dresden die Musik über die Szene: Macht des Opernschicksals?
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