Nikolaus Lehnhoff, einer der weltweit bekanntesten Opernregisseure aus Deutschland, ist tot. Er ist bereits am Samstag nach langer Krankheit im Alter von 76 Jahren in Berlin gestorben, wie seine Familie mitteilte. Lehnhoff hatte noch im Mai Premiere an der Mailänder Scala mit einer Wiederaufnahme seiner Amsterdamer Inszenierung von Puccinis „Turandot“. Er war der letzte Assistent von Wieland Wagner in Bayreuth und gab sein Debüt 1972 an der Pariser Opéra mit Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“.
Es gibt die biederen Bewahrer und Beharrer sowie die Bilderstürmenden, die mehr oder weniger jungen Wilden. Dazwischen ist Platz für vielerlei Temperamente, auch auf der Regiekanzel der Opernbühne. Und gerade in der breiten Mitte hatte der am 20. Mai 1939 in Hannover geborene Nikolaus Lehnhoff seinen ästhetisch sicheren Platz gefunden. Und das so komfortabel, geschätzt und weltumspannend wie keiner seiner Generation. Er war gefragt in England und Amerika, in Frankreich und an der Scala, in Holland, Kanada, Spanien, Österreich, Schweden, Brasilien, der Schweiz. Auch in Salzburg, wo er zuletzt 2010 Richard Strauss’ „Elektra“ inszenieren hat, war er mehrmals zu Gast.
Lehnhoff studierte in München Musik- und Theaterwissenschaft. Er promovierte über den Humor in den „Meistersingern“. Dann aber wurde er „durch Zufall und Frechheit“ ab 1963 drei Jahre lang Assistent an der neuen Deutschen Oper Berlin beim inszenierenden Intendanten Gustav Rudolf Sellner – und gleichzeitig als letzter Adlatus in Wieland Wagners Bayreuther „Küchengeheimnisse“ eingeweiht. Gemeinsam köchelte man mit „dem geistigen Vater, Autodidakt auch er“, in Bayreuth an der „Mythensuppe“ für eine neue Generation, voll von freudianischen Geheimnissen und antiken Mysterien: Der moderne Mensch in seiner bühnenbeherrschenden Größe, ganz so wie es Wieland Wagners zweite, von Lehnhoff nun aktiv mitbetreute Werkperiode mit unerbittlicher Konsequenz zu ergründen suchte.
Das endete 1966 jäh. Nikolaus Lehnhoff lernte nach Wagners verfrühtem Tod anderswo weiter – an der Metropolitan Opera in New York. Fünf Jahre lang arbeitete er dort mit Stars wie Renata Tebaldi, Regina Resnik, Birgit Nilsson, Christa Ludwig, Franco Corelli, Leontyne Price und Jon Vickers. Er saht Franco Zeffirelli, Tyrone Guthrie und Jean-Louis Barrault über die Schulter, lernte Leonard Bernstein und Jerome Robbins kennen.
Er war ein bereits ziemlich reifer Regieassistent, den der legendäre Direktor Rudolf Bing auch die eine oder andere Uraltinszenierung nach eigenem Gutdünken neu aufarbeiten ließ. Die Sängergrößen liebten ihn, er aber lernte auch, wie wichtig richtig gecastete Stimmen sind. 1972 vermittelte ihm, den Zaudernden, eigentlich Zufriedenen, der hartnäckig auf Lehnhoff bestehende Karl Böhm einen Traumeinstieg in die Regiekarriere: „Die Frau ohne Schatten“ an der eben frisch von Rolf Liebermann übernommenen Opéra de Paris mit einer eigentlich bis heute kaum übertroffenen Besetzung Christa Ludwig, Walter Berry, Leonie Rysanek und James King. Die Produktion wurde in den Himmel gelobt, gastierte über Jahre von Wien bis New York vielfach auch anderswo, quasi eine Musterfassung des komplexen, damals noch selten gegebenen Werkes.
Mit Argusaugen wurde solches allerdings in Deutschland beäugt. Einer, der fünf Jahre weg gewesen war, der gleich in Paris mit Weltstars einstieg, der die deutsche Provinz vermieden hatte, das durfte eigentlich nicht sein. Keiner mochte ihn dort engagieren. Als zunehmend das Regietheater provokant tobte, blieb Lehnhoff der noble Außenseiter. Er war viel zu weit herumgekommen, um sich von seinen politisierten deutschen Kollegen und ihrem oft unsinnlichen Ansatz vereinnahmen zu lassen. Er versuchte einen Mittelweg zwischen Interpretation und Nacherzählung, stellte ganz undogmatisch und sensibel den singenden Menschen in den Mittelpunkt.
Mochten es andere genialisch funkeln lassen, sich im kreativen Chaos gefallen: Lehnhoff legte Wert auf die kleinste Nichtigkeit, damit es im großen Ganzen funktioniert. Und war trotzdem kein Erbsenzähler. Bei ihm funkelte es durchaus vor Ideen. Er hatte Konzepte, die sich zu Visionen ausweiten. Er wusste präzise, was er wollte und bekam es auch; weil er die Praxis und die Professionalität besaß, es von Institutionen wie Künstlern einzufordern. Er fing bei einem Werk an, um eine Ästhetik zu finden, und stülpte nicht eine Ästhetik einem Werk über. Deshalb sahen seine Inszenierungen nie gleich aus, er wusste genau, welcher Bühnenbildner zu welchem Komponisten passte. Er castete seine Besetzungen in monatelanger Vorarbeit selbst, weil er viele Sänger kannte, weil er Talente schnuppern konnte, weil er informiert war.
Gerade in seiner neugierigen und ästhetisch sehr unterschiedlichen bühnenbildnerischen Auseinandersetzung mit Künstlern bot er über die Jahrzehnte viel Spannendes: Heinz Mack engagierte er 1973 für einen nur aus Licht gebauten Raum im römischen Theater von Orange, wo unter Böhm, mit Nilsson und Vickers sich eine der bannendsten „Tristan und Isolde“-Begegnungen überhaupt ereignete. Günther Uecker wurde ihm im Jahr darauf Partner in einem Bremer „Fidelio“ mit neuen Dialogen von Hans Magnus Enzensberger. Er arbeitete mit Adolf Luther und 1988 in Hamburg bei Berlioz’ Opernzwitter „La Damnation de Faust“ mit der poppigen Videokünstlerin Suzan Pitt.
Nikolaus Lehnhoff war auch seiner Zeit voraus, als er den „Ring des Nibelungen“ 1984 in San Francisco in einem spektakulären Caspar-David-Friedrich-Ambiente spielen ließ. 1987, als die Bayerische Staatsoper mit ihm und Wolfgang Sawallisch erstmals in einem Repertoire-Theater die Tetralogie binnen einer Woche herausbrachte, wählte er dafür Erich Wonders visionäre Science-Fiction-Bilder. Während er in der Welt viel gefragt war, konnte er nie von Deutschland lassen. 1991 inszenierte er einen für seine Verhältnisse frechen „Lohengrin“ in Frankfurt. 2006 überarbeitete er diesen in Baden-Baden, diesmal in der schier endlosen Treppenlandschaft des in diesem Metier debütierenden Architekten Stephan Braunfels.
1992 erweckte er in München ein anderes, sehr deutsches Thema in Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg“ dank einer ernsthaften, in lichtes Preußischblau getauchten und streng aus den Figuren heraus entwickelten Inszenierung zu neuem Leben. Mit diesem Komponisten verband ihn viel, wie seine von diesem überaus geschätzten Visualisierungen der Manon-Lescaut-Adaption „Boulevard Solitude“ im Einheitsbild eines Bahnhofs 2001 in London sowie 2009 die bisher überzeugendste Umsetzung des märchenhaften Spätwerks „L’Upupa“ in Dresden.
Zu einer festen, bis heute gebliebenen Regiegröße war Nikolaus Lehnhoff ab Beginn der 90er-Jahre für über eine Dekade im lauschigen englischen Landopern-Festspielort Glyndebourne geworden, wo er es sogar fast bis zum Intendanten gebracht hätte. Traumschön gelangen hier in glücklicher Fügung drei mustergültige, später oft wiederaufgenommene und weitreisende Leoš Janáček-Produktionen, mit denen er Anja Silja, einer seiner Lieblingssängerinnen, ein erstaunliches bis heute andauerndes Comeback bereitete.
Noch einmal knüpfte Nikolaus Lehnhoff an diesen Glyndebourne-Erfolg an, 2003 mit dem ersten dortigen Wagner überhaupt – „Tristan und Isolde“, in der soghaft symbolischen Rundarchitektur Roland Äschlimanns. Hier war er in seiner symbolhaften Verknappung, den minimalistischen, wie in Trance voranschreitenden, oft nur wie Scherenschnitte wahrzunehmenden Bildern seinem Lehrmeister Wieland Wagner plötzlich wieder ganz nah; diesen freilich für das 21. Jahrhundert adaptiert.
Doch während er weiter in San Francisco und Chicago, Lyon und London arbeitete, wurde Nikolaus Lehnhoffs skeptischer, immer ästhetisch überhöhter und im Temperament gezügelter Realismus auch in Deutschland wieder entdeckt. In Zürich inszenierte er 2003 eine feingeistige Interpretation der „Meistersinger“. In Leipzig zeigte er – wie vorher schon in Chicago und New York – zweimal Strauss, 1992 „Elektra“,1994 „Salome“ ohne altbiblisches Pathos und salonhafte Schwüle. In ganz neuen Dekorationen kam der Einakter dann noch einmal 2011 in Baden-Baden heraus, wo seine Arbeit am Festspielhaus immer sehr geschätzt wurden.
In Berlin inszenierte Lehnhoff 1997 an der Staatsoper einen bilderbuchhaft symbolistischen „Freischütz“. In Düsseldorf war 2000 Bergs „Lulu“ einfach Lulu. 2012 wurde in Essen dank seiner unaufdringlichen, aber deutlichen, personenführungsstarke Regie sowie ein exquisites Sängerensemble Debussys „Pelléas et Mélisande“ als seine letzte Neuinszenierung zum intelligent- zeitlosen Vorzeigebeispiel eines mittelgroßen Hauses.
Lehnhoffs „Palestrina“-Deutung in London (1997) versuchte das hermetische Werk aufzubrechen, ihm Symbole zu geben, wo nur Pathos triefte. Auch in Amsterdam arbeitete Nikolaus Lehnhoff gern: 1998 entwickelte er „Tosca“ als brillanten Reißer in mondänem Ambiente, vier Jahre später folgte die szenische Uraufführung der „Turandot“ mit dem neuen Berio-Schluss, die er jetzt zur Expo-Eröffnung an der Mailänder Scala unter Riccardo Chailly noch einmal aufpolierte. Später gab es dort einen „Tannhäuser“, der auch nach Baden-Baden wanderte – und als letzte niederländische Regiearbeit 2009 eine sich nur zur Puccini-Trilogie rundende „Fanciulla del West“, die ungewohnt witzig-ironisch mit Hollywood-Mythen und Amerika-Symbolen spielte.
Auch in Dresden hatte Nikolaus Lehnhoff Fuß gefasst, wo von ihm 2006 an der Semperoper die auch am Theater an der Wien nachgespielte packende Vergegenwärtigung von Jake Heggies „Dead Man Walking“ sowie 2008 ein starbestückter, mit faschistischen Versatzstücken wie Max Ernst Elementen spielender „Rigoletto“ herauskam. Lehnhoffs Inszenierung von Poulencs Nonnenoper „Dialogues des Carmélites“, aus dem selten so geschlossen agierenden Frauenensemble heraus entwickelt, wurde 2003 in Hamburg zur Sensation. Sein kluger, mit Beckettscher Endzeitstimmung arbeitender „Parsifal“ wurde 2004 von der English National Opera (1999) – fast wie ein Gegenmanifest zum zwei Wochen zuvor aufgeführten Bayreuther Schlingensief-„Parsifal“ – beiläufig ins Baden-Badener Festspielhaus übernommen.
Nikolaus Lehnhoff hatte in den letzten Jahren wie fast kein anderer Regisseur nicht nur aktiv dafür gesorgt, dass viele seiner Inszenierungen aufgezeichnet wurden, er hatte sich auch immer wieder für Sänger stark gemacht und ihre Karrieren mitbefördert, so etwa bei Thomas Hampson, Kim Begley, Kathryn Harris, Pär Lindskog, Christopher Ventris, Nina Stemme und Michael Volle.
In Salzburg hatte Nikolaus Lehnhoff 1990 mit einem noblen, klar gezeichneten, dabei gleichnishaft strengen „Idomeneo“ von Mozart unter Stabführung von Seiji Ozawa debütiert. 2003 stellte er sich – bei den Osterfestspielen unter Simon Rattles Leitung – in einem auf CD festgehaltenen „Fidelio“ noch einmal dem unmöglichen Befreiungswerk, mit dem er nie fertig zu werden scheint. Nachhaltiger aber wirkte seine auch auf DVD festgehaltene Inszenierung der hier einer Neuentdeckung gleichkommenden, schwülstig-schweren Franz Schreker-Oper „Die Gezeichneten“ – das kühle Paradies eines Inselelysiums als großbürgerliche Lasterhöhle.
Nikolaus Lehnhoff war für gewöhnlich einer der wenigen deutschen Regisseure, die sich noch trauen, Opern in der von den Autoren vorgegebenen Epoche zu spielen. Man konnte mit ihm nichts falsch machen, erzeugte vielleicht keine Sensationsschlagzeilen, bekam aber grundehrliche, intelligente, oftmals im zweiten Blick gewinnend tiefschürfende Inszenierungen. Immer mit Lust auf Neues, aber auch mit dem abwägenden Blick für das Machbare. Und er selbst hat noch aktiv daran mitgearbeitet, dass aus dem Rückblick auf eine große Regiekarriere 2015 ein von ihm gestaltetes Buch wurde: “Die Oper ist das Reich des Scheins” herausgegben von Birgit Pargner im Henschel Verlag.
Der Beitrag Nikolaus Lehnhoff ist tot: ein deutscher Weltopernbürger erschien zuerst auf Brugs Klassiker.