Hasste oder herzte Händel sein Handy? Wir werden es nie erfahren. Aber wir wissen jetzt, dass die antike Königin Berenice von Ägypten Selfies liebte, viel in sozialen Medien unterwegs war, ihr Mobiltelefon nie aus der Hand legte und dass König Mitridate von Pontus eine E-mail-Adresse hatte. So will es uns jedenfalls der Regisseur Jochen Biganzoli glauben machen. Und mehr noch, der übliche Liebes- und Intrigenwirrwarr unter antiken Adeligen, der für gewöhnlich ein Opera-Seria-Libretto ausmacht, der wird hier zum Datenkuddelmuddel und hysterisch befeuerten Posing, wo das Arien-Dacapo vor der Videokamera wiederholt wird, Webseiten und Emojis die emotionalen Wellen in Echtzeit widerspiegeln. Mit dieser späten, unverständlicherweise nur sehr selten gespielten Oper haben die Hallenser Händelfestspiele nun im Opernhaus einen Weltrekord aufgestellt: Alle 42 komplett überlieferten Opern des Meisters sind hier szenisch präsentiert worden. Und man versteht eigentlich nicht wirklich, warum es im Fall der „Berenice, Regina d’Egitto“ von 1737 so lange gedauert hat. Erweist sich doch die ptolemäische Herrscherin (die in der historischen Wirklichkeit sehr schnell in ein offenes Mördermesser lief) als ziemlich gewiefte Realpolitikerin, die am Ende den Mann nimmt, der einflussmäßig am besten passt: den von den römischen Okkupanten favorisierten, ziemlich unreif an seinem Brausebecher nuckelnden Twen Alessandro. Sie macht Merkel-Raute und das juvenile Bettspielzeug freut sich schon auf die nächste Liebesrunde zwischen rosa Satin-Plumeaus.
Lustvoll lässt sich Halles reife Primadonna Romelia Lichtenstein auf das mit Wonnen angetrashte Ambiente ein. Um schließlich, in den Orchestergraben herabsteigend, in der herrlich von einem Oboensolo (für Giuseppe Sammartini komponiert) umspielten Arie „Chi t’intende?“ die herbstliche Schönheit ihres dunklen Soprans auf weiten Atembögen fluten zu lassen. Vorher freilich muss sie – wie einst Alexis Carrington – durch einige Ups and Down: der Tiefpunkt ist erreicht, als sie melancholisch eismampfend bei ihrer mitternächtlichen Frustfressattacke vor dem kalt leuchtenden Kühlschrank sitzt. Doch auch dieses clever aktualisierte Bild barocken Opernjammers zieht schnell vorbei, weil auf Wolf Gutjahr transparenter Bühne von einem Glitzervorhang umspielt laufend Räumlichkeiten wie in einer Zentrifuge vorbeifliegen.
Unten steht ein Stuhl, lockt ein Bett, verführt ein Spiegel, oben blinkt es in Neon „KRIEG“, und rattern stumm die eben vom Singpersonal versendeten Tweeds wie Instagram-Optimierungen vorbei. Die dauerregten Figuren hetzen von einer Klapptür zu nächsten. In der zweiten Hälfte drosselt Biganzoli dieses mörderische Tempo freilich klugerweise. Denn schon zur Pause hat der charismatische, eine heikles Doppelspiel wagende Demetrio (der für Fieslinge wie geschaffene, ausdrucksextreme Counter Filippo Mineccia) alle Stecker gezogen. Funkstille, Monitorschwärze. Es muss dringen rebooted werden, was Händel mit den folgenden Trauerarien und Kerkerszene wunderfein klanglich zu untermalen scheint.
Katharina Weissenborn hat ihr sexy Singsextett anfangs in Glam Rock-Outfits gehüllt: Spitzenbluse zu Brokatrock und Lederjeans, dazu viel Goldlammé-Wallawalla. Doch so wie sich das mitunter heulende Gefühlselend offenbart, so gehen sie alle auch ihrer Klamotten und Lockenperücken verlustig, bleiben arme, greinende Menschlein, die sich am Ende wieder einigermaßen fangen, wohlgeleitet von dem versatilen, nie in Extreme verfallenden Jörg Halubek am Cembalo und dem transparent klingenden Händelfestspielorchester. Überhaupt ist diese Musik, komponiert zwischen „Arminio“ und „Giustino“, viel besser als ihr Ruf, mit abwechslungsreichen Arien zwei Duetten bis zum hier bewusst heiter als dann wieder glamourös ausgestattetes Gruppenselfie arrangierten einigermaßen guten Ende.
Liebe und Politik sind hier eines, auch wenn es eine öffentliche Schaufassade und dunkle Intrigenecken hinter den Kulissen gibt. Als eine Art Mr. Showmanship und Ansager führt das im silbrigen Paillettenanzug der basssatte Ki-Hyun Park vor, der als einziger außerhalb der Handlung bleibt. Als wäre sie nicht die Schwester von Berenice, sondern von Beth Ditto, so pendelt Svitlana Slyvia temperamentvoll mezzosatt als schräge Selene und heimliche Geliebte von Demetrio durch die Winkelzüge der Handlung. Immer in der Nähe: Robert Sellier als metrosexueller römischer Tenor-Botschafter Fabio mit perfekter Fotoschnute wie fein gesetzten Spitzentönen. Nicht nur optisch an den Rand gerückt ist diesmal die auch von Händel kaum bedachte Franziska Gottwald als weiterer möglicher Berenice-Bräutigam Arsace; meistenteils muss sie als Putzfrau die Bühne befeudeln.
Die große Besetzungsüberraschung ist freilich der kaum zwanzigjährige Soprancounter Samuel Mariño, der als Alessandro in seiner ersten Bühnenrolle mit cremiger Höhe und zielsicheren Rouladen allen vokal wie optisch die Schau stiehlt. Auch weil er traumsicher durch die Social-Media-Welt wandelt, die ihn erst großgemacht hat. Ein Winner, der sich jetzt noch eine erfahrene Liebhaberin zur Braut genommen hat. Da könnte wie bei Meghan Markle durchaus eine Kariere als Mega-Influencer drin sein…
Händel sehr heutig im WhatsApp-Zeitalter also zum Auftakt. Im Bad Lauchstädter Goethe-Theater, wo tags darauf die zweite von dieses Jahr acht szenischen Hallenser Festspielproduktionen über die kleine historische Bühne geht, war man freilich Welten weg von solchem YouTube-Gedöns. Dort hat die bewährte Spezialistin Sigrid T’Hooft Händels einzige, für eine Prinzessinnenhochzeit bei den Hannoveranern 1734 verfertige Serenata „Parnasso in festa“ gewohnt historisch informiert und vor allem analog in Szene gesetzt und choreografiert. Eine Art lebende Bild ist da über zwei Stunden zu erleben, während der versammelte Olymp die Hochzeit von Thetis und Peleus vorbereitet. Den Brautleuten soll im Fall von Daphne und Orpheus noch einmal vorgeführt werden, wohin Liebe tragischerweise auch führen kann, bevor das neue Paar verherrlicht wird.
Zwei Tänzer, ein kleiner Chor und himmlisches Personal wie die Musen Clio, Euterpe, und Calliope, die Mama von Orpheus, dessen Vater Apoll, Mars und die Jägerin Clori (passenderweise von einem Counter gesungen) haben sich in glitzernden Barockkostümen vor gemalten Wölckchen und einem Sonnenkranz versammelt, um dauerzuhuldigen in Gesang und Tanz. Das bleibt über die drei Akte im wohlfeilen, weil handlungslosen Arrangement stecken, Abwechslung bringen höchsten zwei Hörner, zu deren Schall sich die Freuden der Jagd bejubeln lassen sowie zwei perlenbesetzte, tanzende Tritonen. Doch weil die Partitur sorgfältig aus Teilen des Oratoriums „Athalia“ im italienischen Stil recycelt wurde, macht das nicht nur Klangspaß (wofür auch die Berliner Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner sorgen), sondern passt vorzüglich in das geschichtsträchtige biedermeier-Ambiente. Und gerade solche, bewusst gewollten und genossenen stilistischen Gegensätze machen den Kosmos der Händel-Opern in Halle seit jeher so vital und bühnenfrisch. Hashtag Händel hat sich nicht nur hier etabliert.
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