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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Schuld ist nur die böse Stiefmutter: Martin Schläpfers Düsseldorfer „Schwanensee“ geht zurück zu den Ursprüngen

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Nun kennen wir also endlich alle Angehörigen. Auf der Seite der Frau den Großvater, die Stiefmutter und deren Gefährten, auf der Seite des Mannes dessen Freund, der viergeteilt scheint, die Mutter, deren männliche Stütze. Die komplette „Schwanensee“-Familienaufstellung präsentiert Martin Schläpfer in seiner spannungsvoll erwarteten Premiere in der Deutschen Oper am Rhein – seiner ersten Auseinandersetzungen mit einem populären wie abendfüllenden Klassiker; nach zwei länger zurückliegenden Versuchen mit dem kürzeren, unbekannteren „Feuervogel“. Und während er sich in seiner Präsentation der beiden kompletten, ziemlich dysfunktionalen Familien von Siegfried und Odette auf das kaum später mehr aus der Kiste geholte Originallibretto der Moskauer Uraufführung von 1877 beruft, belässt er eigentlich keinen „Schwanensee“-Schritt der im Westen berühmt gewordenen, oft variierten und überschriebenen Petersburger Zweitfassung von Petipa/Ivanov aus dem Jahr 1895  auf dem anderen. Und doch ist er näher am Original als viele seiner Kollegen.

Trotzdem sieht Martin Schläpfers „Schwanensee“ für das darin wunderbar kraftvoll und individuell sich präsentierende Ballett am Rhein konsequent sehr viel anders aus als die der anderen. Dunkler, konzentrierter, kraft- und schwungvoller. Er baut vor allem in den zweiten Akt verstörende Pausen und stumme Übergänge ein, die die von Axel Kober und den Düsseldorfer Symphonikern so tanztempigerecht wie klangprächtig liebevoll aufbereitete Peter-Tschaikowsky-Partitur spannungsvoll aufladen, während die beiden Schlussakte als fataler Bilder- und Bewegungswirbel vorbeirauschen.

Fotos: Gert Weigelt

Er muss seinen verschlankten, reduzierten, dabei konzentrierten und radikalisierten „Schwanensee“ nicht als prächtiges Divertissement-Spektakel und dunkles Gegenstück zum rosahellen „Dornröschen“ begreifen, wie dies etwa gerade Liam Scarlett am Royal Ballet in London getan hat; wo dieses opulente Stück vor allem auch Kasse machen soll. Und ihn triebt kein archäologischer Eifer um wie Alexei Ratmansky, der gegenwärtig so gerne die historischen Urfassungen rekonstruiert, ihnen aber damit auch viele, heute vertraut virtuose Schauwerte nimmt. So finden sich Schläpfer, der spannendste Neufinder, der aus der (hier besonders deutlich) von Heinz Spoerli erlernten Tradition schöpft, und Ratmansky, der fantasievollste, technisch versierte Bewahrer der russischen Tradition für das 21. Jahrhundert, an zwei sehr sinnfälligen, dabei völlig entgegengesetzten Ende der Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe wieder.

Das auch bei Martin Schläpfer freilich stets durchscheint, auch wenn er es scheinbar negiert. Er braucht nicht mal die musikalisch herrlich aufbereitete Ouvertüre für die Erklärung neuer Personenkonstellationen, er tut es fast nur durch reinen, puristisch erkennbaren Schläpfer-Tanz. Fast mutwillig zeigt er schon im ersten, aufrauschenden Walzer nackte Füße, geflexte Zehen und geknickte Beine in proletarisch rustikalen Formationen, die ein wenig an die Zimmerleute in John Neumeiers „Schwanensee“ erinnern, der auch kongenial die zaristische Ballettklassik mit dem schwäneliebenden, schwulen Bayernkönig Ludwig II. kurzschloss. Und schon hier verwischt Schläpfer jede Tableau-Ästhetik, negiert gesellschaftliche Schichten, wechselt Richtungen, erobert asymmetrisch den Raum, den ihm Florian Etti monochrom und leer gelassen hat. In diesem zeitlos modernen Landadelsschloss, wo sich die sozialen Ränge zwanglos durchmischen, sind hinten leere, mattsilberne Bilderrahmen in Petersburger (!) Hängung als funktionslose Zeugen übereinandergestapelter Vergangenheit zu sehen. Die ebenfalls gedeckt gehaltenen Kostüme sind so schlicht wie möglich und so erklärend wie nötig.

Der angemessen blässliche, aber doch nobel leidenschaftliche Prinz des makellosen Marcos Menha wirft sich pfeilschnell energetisch in die Walzerwechselschritte, zieht sich traumverloren in den Solomomenten in sich zurück, obwohl er jederzeit eine öffentliche Person ist. Die Mutter (ergreifend in ihrer Unfähigkeit, selbst mit ihrem Vertrauten Chidozie Nzerem zu kommunizieren: Virginia Segarra Vidal) in diesem vaterlosen Haushalt will es so: durch Heirat hat die Dynastie fortzubestehen. Siegfried aber sucht lieber Halt bei seinem Freund Benno (mit dezent schwulen Untertönen: Alexandre Simoes), der meist im Viererpack mit Brice Asnar, Rubén Cabaleiro Campo und Daniel Vizcayo auftritt, die auch solistisch gefordert sind. Statt des traditionellen Pas de Trois mit den beiden als einzige Spitze tanzenden Hofdamen Claudine Schoch und Julie Thierault verwendet Schläpfer hier Teile des ursprünglich an dieser Stelle platzierten Schwarze-Schwan-Pas-de-Deux mit seiner energetisch peitschenden Coda. Fuettées, 32 gar, gibt es freilich den ganzen Abend über nicht zu sehen.

Er interessiert sich für Charaktere, nicht für technischen Kunststücke. Und doch fordert Martin Schläpfer seine Truppe bis zum Äußersten. Denn auch bei den Schwänen ist alles anders. Da also führt eine böse Stiefmutter mit eiserner Hand ein diktatorisches Zauberinnenregime (Young Soon Hue) macht das famos fies), und vier die Tiertruppe in Schach haltende Helferlein hat sie auch noch. Dafür bleibt der anämische, erst später von Petipa hinzuerfundene Rotbart in Gestalt von Sonny Locsin ein eher peripherer Armewedler. Zum Glück ist da aber auch noch Odettes Großvater (Boris Ranzio), der allerdings – wie so oft die Guten – nur blässlich herumsteht. Ob der als optimistische Hilfskonstruktion wirklich wiederbelebt werden musste?

Immerhin können vor ihm die ebenfalls barfüßigen, tütülosen Schwäne ihre rockartigen Flaumwedel fallen lassen, um jetzt zu Frauen zu werden. Schläpfer macht diese Metamorphose überdeutlich, obwohl es hier zunächst nur ganz wenig Federvieh gibt. Für ihn steht nur Odette im Mittelpunkt, die als einzige Spitze tanzt und doch so gar nichts von den ätherisch verhuschten Ballerina hat, die für gewöhnlich auf dem Schwanensee pirouettiert. Hier ist sie,  in der kompakten, erdverbundene Gestalt von Schläpfers reifer Muse Marlúcia do Amaral, ein Schutz suchendes, verletzliches Wesen, mit flehentlichen Armbewegungen in einem schlichten, dezent mit Mustern applizierten weißen Kleid, das aber schnell in den wie wärmenden Armen Siegfrieds auch zu leidenschaftlichen Flugbewegungen fähig ist. Immer wieder aber stockt der Fluss, scheinen die Pausen schmerzlich auf die Unmöglichkeit dieser Liebe zu verweisen. Um dann etwa durch den fast groben Tanz der kleinen Schwäne – hier von Benno samt Freunden ausgeführt – übertönt zu werden. Und wieder gilt: Schläpfer, der die Männer konsequent aufwertet, stellt keine Abfolge von Tänzen aus, er erzählt eine Geschichte durch und mit Bewegung.

Deswegen fehlt auch auf dem zum Kammerballett verzahnten Fest des dritten Aktes alles Repräsentativ-Glanzvolle. Düsseldorf muss auf die Goldkante verzichten. Ein grauschwarzer Paravent überdeckt jetzt wieder Ettis Seeinstallation aus querlaufenden Neonbändern, zwei herabsinkenden Würfeln mit Wolkenbildern und einem mächtig stilisierten Felsen, hinter dem die Bösen lauern. Die Nationaltänze als nur die Handlung stoppende Prinzessinnendelegationen sind ebenso gestrichen wie auch sonst alle Einlagen. Die vier selbstbewussten Edeldamen als Bräute sind allzu oft aber kaum von der Restgesellschaft zu unterscheiden. Die in einem ganz ähnlichen Kleid auftretende Odile als eine bewegliche Projektion Rotbarts (deshalb von einer anderen Tänzerin, der grellen Camille Andriot verkörpert) bekommt als Solo/Duo Tschaikowskys nachkomponierte Danse Russe mit dem aufreizenden Geigensolo und dem robusten zweiten Tuttiteil zugewiesen.

Auch melancholische Sequenzen aus der Musik des vierten Aktes finden hier bereits Verwendung, während es bei der Rückkehr zum jetzt nur noch hinter Milchglasscheiben erahnbaren See schnell zu Ende geht. Zwar haben die Schwanenfrauen noch einen wunderfein ausbalancierten, in feinmaschigen Mustern sich entfaltenden großen Auftritt mit hohen Beinen und einem expressiven Solo für Julie Thirault, doch die Macht der Stiefmutter ist gebrochen, ebenso wie das erschöpfte Herz Odettes, die endgültig in den Armen des untröstlichen Siegfrieds zusammensinkt. Er trägt sie hinaus, wohl auch in seinen Tod, in letzten Diagonalen fegen die Schwäne über die Bühne.

Mit diesem so atmosphäresatten wie deutlich auserzählten, düster dramatischen, ehrlichen und anrührenden „Schwanensee“ ist Martin Schläpfer ein choreografisch wie musikdramatisches Meisterwerk geglückt. Eines, das direkt ins Herz dieser oft auserzählten Geschichte trifft und ihr trotzdem, ohne allzu viel psychologische Verbiegungen und Anspielungen eine neue Schlüssigkeit und archetypische Bedeutung gibt. Eines, das sich in seiner souveränen Durchmischung von Tanz und Erzählung, Bewegung und Gehalt in die großen wirklich modernen Neudeutungen des Klassikers einreihen darf, von denen es nicht viele gibt. Da scheint sowohl Matthew Bournes mystisch-soghafter Männer-„Schwanensee“ wie – als ganz ferne Reminiszenz – die selbstbewusst-neoklassische Tanzwelt Spoerlis durch. Schläpfer selbst hat diese Neuschöpfung Lynn Seymour, einer der besonders expressiven Ballerinen gewidmet. Und sie leuchtet durchaus hinter dieser neuen, besonderen Odette, die nicht wieder Frau und nicht mehr Schwan ist, aber ein vollkommenes, phantastisches Tanztraumgeschöpf.

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