Lobster & Chips, das ist in Aldeburgh inzwischen eine durchaus legitime, zudem äußerst leckere Alternative zum gewöhnlichen Fish & Chips. Letzterer wird zwar auch überdurchschnittlich gut unter der hölzern barbusigen Meerjungfrau bei „The Golden Galleon“ gereicht und anschließend bei schrecklicher, aber kostenloser Mittagsmusik neben dem Pavillon am Kieselstrand verzehrt. Aber die Luxusvariante passt inzwischen besser zu diesem schnuckelig aufgeputzten Ferienörtchen an der englischen Suffolk-Küste, wo fast jedes Haus vor, in und neben der High Street Ferienwohnungen bereithält. Wo leben da eigentlich noch die Aldeburgher? Das fragt sich selbst die bestbejahrte Festspiel-Gemeinde, die zum 71., von dem einst hier lebenden Benjamin Britten und seinem Lebensgefährten Peter Pears gegründeten Festival of Music and the Arts angereist ist. Das mit den anderen Künsten, vor allem den bildenden, wollen wir freilich nicht so ernst nehmen, abgesehen von der immer wieder schönen Family of Man-Skulptur von Barbara Hepworth, die auf der gleichnamigen Marschlandwiese vor der Oysterbar des Hauptkonzertorts The Snape steht.
Man kommt hauptsächlich der Musik und rustikalen, bei Sonnenschein so heiter-lieblichen Umgegend wegen. Schon die Fahrt mit der Greater-Anglia-Zuckelbahn durch die dauergrünen Hügel ist ein eine vergnügliche Ouvertüre – weil alles pünktlich ist, die Wagen vollständig sind und es im vorsintflutlichen Bahnhof von Ipswitch keinen Stau auf der steilen Umsteigebrücke über die Gleise gibt. Nach einem feinen Lunch, geht es, dies ist ein entschieden disloziertes Festival, zur verzauberten Kirche von Blythburgh mit ihren grauen Grabsteinen zwischen ungemähtem Gras, den hölzernen Engeln unter der Decke. Hier ist zum Sonnenuntergang und meditativ nachts schön, aber eben auch nachmittags, wenn die Sonne milchig durch die Glasfenster fällt, draußen die Vögel tirilieren und innen der schottisch-japanische Gitarrist Sean Shibe auf seinem mit einem Plexiglasdreieck aufgebockten Instrument Johann Sebastian Bachs Lauten Sonate a-moll BWV 997 etwas verhalten intoniert. Passend dazu: die Frau schräg links, die hingebungsvoll im Takt an einem blauen Pullover strickt.
„Bach in Bylthburgh“ ist dieses erste von zwei Konzerten überschrieben, bei denen der manierlich sein rotes Einstecktuch vorführende Shibe eingerahmt ist von dem harmonisch, freilich gleichförmig tönenden englischen Gamben-Consort Phantasm. Die friedlichen Vier spielen sich fleißig durch ein von Mozart bearbeitetes Fugen-Trio, später folgen sechs fertige Contrapuncti aus der Kunst der Fuge sowie der unvollendet abbrechende Contrapunctus „Fuga a tre sogetti“. Das Abrechen und Verschweben der Tönen, lässt einen unvermittelt auftauchen aus der traumschönen, wirklichkeitsenthobenen Countryside-Atmosphäre und ein wenig weltlicher gestimmt darüber nachsinnen, ob es wirklich stimmt, dass rote Herrenhosen hier neuerdings auch als very aldeburghish gelten: bisher hatte man die eigentlich immer für Sylt-Style gehalten. Dafür ist dort der englische Picknick-Strohhut auf dem Vormarsch. Bei genauerem Umsehen ist freilich zu konstatieren: Es gibt nur ein paar versprengte rote Hosenpunkte in den Kirchenbänken. Bedenklicher sind freilich die vielen Haarfärbeunfälle bei den Damen…doch bei der Flut ähnlich bunter Festival-Broschüren hat man die zum Glück schnell wieder vergessen.
Die Zeugnisse diverse Bad Hair Days verschwinden zudem zum Glück im malzfarbenen Zwielicht der Snape Maltings Concert Hall. Dort hat sich auf dem breiten Podium bereits das BBC Scottish Symphony Orchestra aufgebaut während draußen die letzten Gläser Apple-Elderflower-Juice geleert werden. Unter seinem regelmäßigen Gastdirigenten John Wilson spielt der Klangkörper nun das zweite von zwei Konzerten, die einem der diesjährigen Festivalschwerpunkte gewidmet sind: dem 100. Geburtstag Leonard Bernsteins, den mit Benjamin Britten eine enge Bekanntschaft während dessen amerikanischen Kriegsexil 1939-42 verband. Die beiden ersten Wilson-Abende von insgesamt dreien leuchten diese Klangbeziehung, zu der sich noch Aaron Copland gesellt, vorwiegend seriös aus. Im Auftaktkonzert gab es Brittens 1940 komponierte Sinfonia da Requiem sowie die im gleichen Jahr entstandenen Seven Sonnets of Michelangelo in einer neubestellten Orchestrierung des Aldeburgh sehr verbundenen Colin Matthews zu hören. Von amerikanischer Seite wurde Copland Quiet City und Bernsteins 2. Sinfonie „The Age of Anxiety“ beigesteuert.
Für den zweiten Abend hatte John Wilson neuerlich eine spannende Auswahl getroffen. Es ist immer wieder ein unmittelbares Hörvergnügen, gerade hier die Four Sea Interludes aus dem „Peter Grimes“ zu erlebn. Hat man doch kurz vorher noch die Küste gesehen, an dem sie entstanden sind und die sie musikalisch abbilden. Bei Wilson, vor allem berühmt für seine Filmmusikinterpretationen aus dem klassischen Hollywood, klingt das nicht nur hell körperhaft und rhythmisch rasant, man vermeint in diesem Kontext besonders im abschließenden „Storm“ die jagenden Riffs der Bandenkämpfe aus der „West Side Story“ wiederzuerkennen.
Chronologisch passend und an den Klavierpart der 2. Sinfonie abends zuvor anschließend, folgten Brittens 1940 entstandenen Diversions für Klavier zur linken Hand und Orchester, eines der berühmten Auftragswerke des einarmigen, aber schwerreichen Pianisten Paul Wittgenstein. Pavel Kolesnikov spielte die elf trickreichen Variationen mit perlender Technik und feiner Farbpalette. Nach der Pause schloss sich als spiegelbildliches, freilich weitgehend verinnerlichtes Virtuosenstück Leonard Bernsteins Halil als Erinnerung an einen im Sinaikrieg getöteten Flötisten an. Als zweite der drei Artists-in-Residence (neben Wilson noch Geigen-Irrwisch Patricia Kopatchinskaja) blies das Claire Chase so opalisierend zart wie fulminant schnell.
Und als grandioser Rausschmeißer folgte Aron Coplands sofort in die Füße gehende „Billy the Kid“-Ballettpartitur. Hier konnte John Wilson mit dem willig souveränen Orchester seine ganze dramatische Meisterschaft zwischen temperamentvoll aufgefächerter Prärienachtweite, Salontanz, Kampf-Staccati, Duelltod und tönender Stadtansicht entfalten. Denn auch die nicht unproblematische Maltings-Akustik muss bewältig werden. Da kommt schon mal Freude, für den dritten, „Bernstein on Broadway“-Abend mit Wilsons eigenem Orchester auf…
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