70 Jahre ist das sympathisch-lockere Aldeburgh Festival an der Küste von Suffolk nun alt – und es feiert gar nicht ausufernd. Man hat dieses Gründungsjahr 1948 sehr gut mit dem 100. Geburtstag von Leonard Bernstein verblendet, in dem Festival-Chef Roger Wright an die gemeinsame Zeit von Bernstein und Britten in Amerika erinnert (Bernstein dirigierte 1946 auch die dortige „Peter Grimes“-Erstaufführung in Tanglewood. Man hat aber auch drei interessante Artists-in-Residence eingeladen, verknüpft geschickt Barock und Avantgarde, bespielt vom Betonstudio bis zur romanischen Kathedrale eine Vielzahl von Orten, hat Wiederholungstäter wie den ehemaligen Künstlerischen Leiter Pierre-Laurent Aimard ebenso im Programm wie gewichtige Debütanten à la Bryn Terfel, der in zwei Wochen das nachmittägliche Finale bestreitet. Und man lebt wunderbar mit einem Paralleluniversum entspannter Strandurlauber, die im Ort an den pittoresken Häusern vorbeistreichen, wo die Ferienwohnungen „The Lobster Pot“ heißen und über den Gästebetten die Schutzengel wachen. Was kann es schließlich Schöneres geben, als zwischen einer ziemlich schreiwütigen Opernuraufführung und einer so knappen wie charaktervoll klanggustiösen „Bernstein on Broadway“-Hommage zur immer am Blickhorizont der Hauptspielorts Snape präsenten uralten Feldsteinkirche von Iken zu spazieren, an Kartoffelfelder und Salzwiesen vorbei, den mäandernden, gerade ebbeflachen Fluss Alde immer hinter dem vogelstimmendurchfluteten Ried neben sich? In dem Gotteshaus hat jemand grüne Zweige in den Taufstein gestellt, draußen liegt das Ziegelhaus mit den vielen Schornsteinen, das Gründer Benjamin Britten zu seinem Kinderstück „The little Sweep“ inspirierten. Die Sonne strahlt im Abendschein, das Festspielglück à la East Anglia ist vollkommen.
Obwohl es zuvor laut, etwas anödend und sehr pessimistisch zuging. Uraufführungsrisiko. Obwohl die Partizipienten durchaus Spannendes versprachen. Selma Dimetrijevic hat nach einer dystopischen Kurzgeschichte von Robert Silverberg ein Libretto geschrieben, wo es um einen Mann geht, der vom Abendessentisch verhaftet und wegen seiner „Kälte“ zu einem Jahr Unsichtbarkeit verurteilt wird. Er ist da, nimmt aber nicht teil, kann nicht über seine Empfindungen reden, ist ausgeschlossen. Nur eine andere Unsichtbare nimmt ihn wahr und kann mit ihm kommunizieren. Die 1979 geborene Emily Howard (vom Outfit her eine Art englische Olga Neuwirth) hat daraus die knapp neunzigminütige Oper „To see the Invisible“ für wenige Musiker und massives Schlagwerk komponiert. Da geht es laut und monoton zu, das eingeschränkte Wahrnehmen der namenlosen Titelfigur spiegelt sich allzu sehr in der bekannten Avantgardeklischees verhafteten Partitur mit ihrer Stimmbehandlung zwischen Flüstern, Parlando und Schrei wider. Diese ist freilich höchst professionell gemacht.
So wie überhaupt die Produktionswerte in Aldeburgh immer hoch sind. In das versatilen Britten Studio hat Ana Inés Jabares eine cleane, zweistöckige Spielkonstruktion gestellt. Oben sitzt die fabelhafte Birmingham Contempory Music Group, kraftvoll angeleitet von Richard Baker. Im harten Neonlicht darunter wird auf einer aseptisch weißen Bühnenfläche agiert, Klapp- und Schiebetüren erlauben schnelle Requisitenwechsel. Ein wenig sieht das nach einer nicht ganz so knallbunten, global modernistischen „Truman Show“-Welt aus. Während die anderen proper adrett bleiben, verwahrlost der mit seiner Plakette stigmatisierte Unsichtbare (packend: Nicholas Morris) auch optisch immer mehr. Verzweifelt steht er vor einem Freizeitpark mit seinen Ticket- und Süßwarenständen, und kann noch nicht einmal einen Triple Chocolate Shock with a Rasberry Swirl bestellen. Dazu schreit unisono die andere Unsichtbare (Anna Dennis) und die Davongekommenen schauen weg – weil sie ja gar nichts sehen. Man hat das schnell verstanden, zumal Dan Aylings aufgeräumte Regie in der klinischen Manier einer Katie Mitchell keine Deutungsfragen offen lässt.
Im Red House, dem Britten-Domizil, wo zum Leidwesen mancher Besucher die getrennten Schlafzimmer von Ben und Peter (Pears), deren Büsten am Maltings-Hauteingang so einträchtig die Türflügel säumen, gerade nicht gezeigt werden, gibt es eine kleine, feine Ausstellung über die drei amerikanischen Exiljahre der beiden zu sehen. Immer wieder lustig: das offenbar sehr chaotische Künstlerhaus in Brooklyn Hights, wo das Paar mit dem drogenumnebelten W. H. Auden, der dauerdepressiven Carson McCullors, Salvador und Gala Dali sowie Jane und Paul Bowles zusammenlebte; nicht zu vergessen die Ex-Burleske-Tänzerin Gipsy Rose Lee, die gerade an ihrem Krimi „The G-String Murders“ werkelte.
Den US-Kriegsjahren waren auch die ersten beiden Britten-Bernstein-Copland-Konzerte gewidmet, die der optisch an einen zu kurz geratenen Christoph Lieben-Seutter erinnernde John Wilson mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra gab. Beim dritten, für das sein eigenes, filmmusik- und musicalerfahrenes John Wilson Orchestra aufgeboten war, stand ein vergnüglicher „Bernstein on Broadway“-Geschwindmarsch auf dem Programm, der so schnell vorbei war, das man trotz Zugabe nach 105 Minuten nichts vermisste. Was am kompositorischen Genius liegt, der mit Ausschnitten aus acht, zwischen 1944 und 1976 geschriebenen populären Werken vertreten war. Da wurde die wundervolle „One the Town“ ebenso gewürdigt, wie der gefloppte „Peter Pan“, der später umgearbeitete „Trouble in Tahiti“ ausgebreitet oder das überambitionierte Weiße-Haus-Musical „1600 Pennsylvania Avenue“ ausgestellt. Und nicht nur bei der auch in Sinfoniekonzerten inzwischen gern gespielten „Candide“-Ouvertüre war zu konstatieren: Diese Musiker haben einen anderen Drive, mehr Witz und Beweglichkeit, auch eine unterschiedlich strahlende Aggressivität als ihre sinfonischen Kollegen.
Bestens ausbalanciert auch das Vokalquartett: der aufstrebende Sopranstern Louise Alder, die in „Glitter and be Gay“ ihre swingende Koloraturen blühen ließ; der elegante Tenor Damian Humbley, der ein makelloses zartes „Maria“ sang – und natürlich vor allem die Wuchtbrumme Kim Criswell, die sich als Old Lady beim Tango mit Wonne in die Arme der bereitstehenden Herren plumpsen ließ, zweimal das Kleid wechselte und das wie für sie geschriebene „I can cook too“ skandierte. Am Ende war dann über Snape der Broadway-Mond aufgegangen und Britten und Bernstein waren mehr als nur dicke Aldeburgh-Klangkumpels.
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