Am 20. Juni 2019 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Jacques Offenbach, allein schon von seinem Produktionsausstoß her einer der bedeutendsten Komponisten des Musiktheaters. Und es gibt wohl kaum einen berühmten Namen in der Musikgeschichte, von dem ein so großer Teil seines Werkkorpus immer noch nicht bekannt ist, geschweige denn gespielt wird. Doch auch dieses gewichtige Jubiläum holt die meisten Musiktheater nicht aus ihrer Trägheit. Schaut man so in die Ankündigungen der Opernhäuser für die nächste Saison, so findet man das Erwartbare oder gar nichts. Immerhin: in Hannover probiert man nach Lyon neuerlich die Ausstattungsrevue „Le Roi Carotte“ aus, in Hildesheim gibt Max Hopp mit Adam Benzwi im Graben seine Regiedebüt mit „La Princesse de Trébizonde“. Biel-Solothurn stemmt „Les Fées du Rhin“, und am kleinen städtischen Operettenhaus in Marseille geben sie alle Einakter, meist aber nur in sehr reduzierter Form. Am Bedeutendsten wird sicherlich die Ausgrabung des singenden Hundes „Barkouf“ in der dreiaktigen Chinoiserie, für die Eugène Scribe 1860 das freche Libretto schrieb, welche im Dezember mit Jacques Lacombe am Dirigier- und Mariame Clément am Regiepult in Straßburg herauskommt. Aber jetzt schon immerhin hat sich Pierre Audi als offiziell letzte Premiere seiner 30-jährigen (!) Amsterdamer Opernära (zwei weitere Spielzeiten hat er noch geplant) eine so aufwendige wie aufregende „Les Contes d’Hoffmann“-Inszenierung geleistet. Und während man beispielsweise an der Deutschen Oper Berlin glaubt, seinen Subventionsauftrag mit dem Einkauf einer 15-Jahre alten, weitgereisten, längst verfilmten Laurent-Pelly-Produktion erfüllt zu haben, hat der Regisseur Audi diese stets herausfordernde Aufgabe in Gestalt von Tobias Kratzer ganz bewusst an die nächste Generation weitergeben. Und die hat die Neudeutung dieses mystischen Fragments glanzvoll, sinnlich und intelligent gemeistert.
„Les Contes d’Hoffmann“, das ist als opéra fantastique immer auch ein besonderer Brocken für die Ausstattung. Die nicht automatisch eine oft gesehene, surreal-puppenstubenhafte, romantisch durchzuckerte Fantasywelt beschwören muss. An der Dutch National Opera mit ihrer außergewöhnlich breiten Bühne weiß man jetzt so gar nicht, was wohl zuerst da war: das Bühnenbild- oder das Inszenierungskonzept. Denn beides bedingt hier einander wie selten. Und Kratzers ständiger Ausstatter Rainer Sellmaier hat wirklich Grandioses geleistet. Da schwebt zunächst ein zeitgenössisch anmutendes, weiß leuchtendes Künstlerloft, das gleichzeitig Wohn- und Arbeitsstätte des versoffenen, zugedrogten Fotografen Hoffmann ist, wie in einem schwarzen Rahmen im Raum. Dieser offenbart sich freilich als dreistöckige Abfolge immer wieder neu konstruierter und möblierter (deshalb auch die hier sinnfälligen zwei Pausen) Nebengelassen, labyrinthisch, rätselhaft, gruselig. Das ist die Sphäre, in der sich die Frauengeschichten abspielen: in einer anderen Welt, bisweilen auch einer anderen Zeit.
Sind sie real oder Erfindung? Idee fixe oder wirklich passiert? Auf der Asche einer romantischen Künstlerexistenz legen Kratzer und sein Dramaturg viele Fußspuren, verwischen die Ebenen und machen am auch hier apotheotisch von allen Beteiligten ausgesungene Ende nur eines klar: Groß ist man in der Kunst durch die Liebe und mehr noch durch die Tränen. Dafür – man spielt eine sehr vollständige Fassung fast ohne Dialoge aus Oeser, Keck und Kaye unter Auslassung der schönen, aber unechten Monte-Carlo-Nummern – bleibt der Fokus immer auf Hoffmann (der nimmermüde John Osborn singt ihn mit zuweilen arg stählernem, aber versatil-emphatischem Tenor) und seiner Freundin/Assistentin, zu der La Muse/Nicklausse hier aufgewertet wird. Irene Roberts mit ihrem agilen Mezzo lässt sich die Gelegenheit aller ungestrichenen Arien nicht entgehen, ist Opfer, Partnerin und schließlich Siegerin.
Hoffmann, dass ist hier ein Fotograf, ein professioneller Zu-Schauer, ein Voyeur. Wenn er nicht mit seinen nichtstuerischen Freunden (die chorischen Geister des Weines und Studenten sind ins Off des nicht vorhandenen Lutter & Wegner-Gewölbes verbannt) abhängt, säuft, hascht und Härteres einwirft oder spritzt, hat er sein Objektiv aus dem Fenster gerichtet: auf Stella, die eine, die Begehrte, Beschworene, hier niemals Auftauchende. Diese Obsession bannt er auf Fotopapier und übermalt sie. Die Ergebnisse hängen an der Wand und auf Leinen, stehen in der Ecke und verwirren seinen Geist.
Eine Situation wie in Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“, auch wenn die von Hoffmann (in seiner Fantasie?) begangenen Morde auf sich warten lassen. Folgerichtig, dass Irene Roberts zurecht gemacht ist wie 1954 Barbara Bell Geddes neben James Stewart. Sie stützt ihn, entgiftet ihn, möchte von ihm verführt, auch als Frau ernstgenommen werden. Ähnlich wie ihr Chef und Idol muss sie durch Liebe und Tränen. Am Ende, er ist endlich wieder clean, drückt sie ihm mutig ihre Zeichenmappe in die Hand, küsst ihn und – geht. Ob sie wiederkommen wird?
Immerhin, die fiesen Freunde setzen bei Hoffmann den Erinnerungs-, vielleicht auch Inspirationsprozess in Gange. Die übrigen Räume werden funzelig hell, offenbaren ein Zwanziger-Jahre-Bordell, wo oben Mädchen hinter Gitter gehalten werden, links der Zuhälter Spalanzani (Rodolphe Briand) sie mit ärztlicher Hilfe blutig für die Freier optimiert. Die uniform schwarzgekleidete Menge des von Ching-Lien Wu wie stets prächtig präparierten Chores schaut geifernd zu, wie sich der nuttige Olympia präsentiert. Nina Minasyan lüpft die Koloraturen so lüstern lässig wie ihr Lolita-Leibchen. Dafür wird sie rechts oben von Hoffmann vergewaltigt und vom sich um seinen Lohn betrogen sehenden Coppélius ermordet.
Den gibt Erwin Schrott, mit viel düsteren Ausstrahlung und Präsenz, teuflischem Timbre, aber nur noch fahlen Zittertönen. In den vier Bösewichter-Rollen hat er wirkungsvolle, sogar sexy Auftritte im zerrissenen T-Shirt; als Spielmacher wirkt er freilich, im zentralen Raum taucht er kaum auf, an den Rand geschoben. Sein Part in dem schmuddeligen Spiel wird nie wirklich klar.
Auf das sündig-rot-schmutzige Olympia-Etablissement folgt die aseptisch schwarzweiße, viktorianisch-verkniffene Puppenstubenwelt der von ihrem Vater vom gefährlichen Draußen weggeschlossenen Antonia. Wunderbar gibt die sich verzehrende Ermonela Jaho in Kinderkleidchen und Kniestrümpfen deren unerfüllten Wünschen stimmlich wie darstellerisch sehrenden, verkrümmten Kindfrauen-Ausdruck. Der hell phrasierende, in den vier Dienerfiguren vom Fahrradboten Andrés zum Butler Frantz aufgestiegene Sunnyboy Dladla singt erst seine Arie mal nicht als abgesungener Spieltenor, sondern ganz ernsthaft schön und befreit dann Antonia. Die schnappt sich in der Abstellkammer die Noten der Sängerinnenmutter und beschwört deren Vokalgeist im ehemaligen Boudoir.
Während Hoffmann und die Muse diesmal hilflos das Geschehen um sie in ihrem Studio nur hörend erleben, und auch Vater Crespel (Paul Gay) im Treppenhaus verharren muss, verführt auf dem Speicher Schrott als vampirhafter Doktor Mirakel mit Metzgerschürze Antonia durch die Gesänge der Mutter (Eva Kroon). Hinter eine Gardine wartet aber nur ein Grammophon. Die Schelllackplatte, Abbild der Stimme ihrer Herrin, zerbricht das Mädchen und schneidet sich damit die Kehle durch.
Noch tiefer herab, konkret wie moralisch, geht es im dritten Akt. Giuliettas trügerisch lockend beschworenes Barkarolen-Venedig ist nur die gondelfreie, schmierig glitzernde Kanalisation, wo halbnackte Nixenwesen von zahlenden Besuchern pervers bestaunt werden und man sich an Spielautomaten vergnügt. Auch die üppig-grelle Christine Rice ist lediglich eine auf Dapertuttos Schmuck geile, fischschuppig-käufliche Sirene, zu der Hoffmann freilich mittels einer Wendeltreppe Zugang hat. Hier verstrickt er sich und interagiert am stärksten, doch dieser reifen Abzockerin ist er nicht gewachsen. Als die miese Aktion seinen Kunstbereich erreicht, tötet er den schattenlosen Schlémil (François Lis). Mit Heroin in den Adern setzt endlich die Katharsis ein: durch die konkrete Erinnerung oder Evozierung von Schimären sieht Hoffmann wieder klar. Der Exorzismus hat funktioniert. Obwohl es wohlmöglich seine Muse kostet. Wird er überhaupt einmal richtig lieben können?
Kratzer inszeniert das überraschend konsequent, auch wenn das Böse diesmal vor allem aus Hoffmann kommt; was genügt. Denn das ist so bildermächtig, dass man gebannt schaut, kaum wirklich hört, dass leider der in Amsterdam überbewertete Carlo Rizzi samt den dumpf tönenden, wenig sich als Rotterdamer Philharmoniker qualifizierten Musikern für allzu fade orchestrale Impulse sorgt. Die farbig nuancierte Partitur wird weder analytisch ausgeleuchtet noch rauschhaft rhythmisch zum Prickeln gebracht. Im Graben herrscht also Ofenbach-Konvention, wo die Bühne klug und konsequent nach neuer Interpretation für eine Obsession sucht – und sie überzeugend findet. Zum Glück wurde dieses absolut sehenswerte, visuell-virtuose Kunststück aufgezeichnet.
Der Beitrag Du sollt Dir kein Offenbach-Bild von ihr machen: Tobias Kratzers tolles Künstlerdrama „Hoffmanns Erzählungen“ in Amsterdam erschien zuerst auf Brugs Klassiker.