Belgien und Sergei Prokofiews zweite Oper „Der Spieler“ nach der gleichnamigen Dostojewski-Novelle, das ist eine ganz besondere Geschichte. Schließlich wurde das sperrige Werk in Folge eines komplizierten Entstehungsprozess während der Kriegs- und Revolutionsjahre 1915-17 hier 1929 auf französisch an der Brüsseler Monnaie-Oper uraufgeführt. Und jetzt kehrt es, Andrea Breth in Amsterdam, Harry Kupfer in Frankfurt, Caroline Gruber an der Wiener Staatsoper und Vasily Barkathov haben sich jüngst mit dem lange im Westen missachteten Stück beschäftigt, nach Belgien zurück. Und an der Opera Vlaanderen in Gent, wo deutsche Schauspielregisseure schon länger einen guten Stand haben, Michael Thalheimer mit „Macbeth“ nächste Saison seine dritte Verdi-Premiere zeigen wird, ist es dem nach Genf wechselnden Intendanten Aviel Cahn gelungen, mit Karin Henkel, der vielfach dekorierten Chefin des Deutschen Schauspielhauses, eine höchst prominente Debütantin zu dem Prokofiew zu verführen. Der ihr wirklich souverän gelungen ist.
Wobei Karin Henkels gerade bei diesem hektisch losschnappenden, zwei ruhe- und pausenlosen Stunden dauernden Vierakter vor allem eines offenbar: Metierkenntnis und sehr gutes Handwerk. Sie hat schnell gemerkt, dass Prokofiew im sarkastischen Aufklärungsgeist seiner Zeit schon für genug herzlose Casino-Satire sorgt, dass man den Strudel aus Sucht und Emotion, in den der mittellose Hauslehrer Aleksej in der fiktiven Kurstadt Roulettenburg hineingezogen wird, nicht zusätzlich grell aufquirlen muss. Muriel Gerstner hat ihr deshalb ein roulettetischgrünes Einheitsset gebaut, dass in Hartmut Litzingers atmosphärischer Ausleuchtung mit seiner dreifach gestaffelten Bühne, auf der sich zunächst der gleiche Hotelraum mit Stehlampe, Sessel, Fernseher und zwei Einzelbetten wiederholt, erstaunlich wandlungsfähig ist. Hier mischen sich so spielend wie fließend Privates und Öffentlichkeit. Die vielen, durch die distinguiert farbigen Kostüme von Klaus Bruns bestens abgesetzten kleinen Rollen sind sofort wiedererkennbar und marschieren schon mal über alle Betten schnurstraks ins Pfandhaus – um fast ohne alles wiederaufzutauchen. Dieses stets übersichtliche Tableau, wo links auf drei Leuchtbändern böse Bemerkungen wie „Play or die“ laufen, hat die trügerisch ironische Fifties-Anmutung eines sanft surrealen, den harmonische Schein des Gutbürgerlichen wahrenden Ionesco-Settings – und bleibt doch konsequent überzeitlich.
Karin Henkel lässt die Geschichte rückwärts laufen. Alexej, desillusioniert, von seiner angebeteten Polina enttäuscht und verlassen, pleite zudem, erinnert sich als alt gewordenes Tänzerdouble (Miguel do Vale) daran, wie die Dinge aus dem Ruder liefen. Offenbar hat er Zeit seines Lebens nichts daraus gelernt; auch jetzt liegt er besoffen auf dem Bett, ein Zimmermädchen säubert um ihn herum. Dann offenbart sich hinten, auf einer erhöhten zweiten Ebene, der jüngere Alexei (mit seinem eigentlich feinen, hellen Tenor vermeidet der bannende Ladislav Elgr jeder Dauerschreierei), beide agieren parallel, dann separat. Henkel hält dieser rasanten Konversationsoper mit ihrem dialogischen Dauer-Pingpong mit ihrem spannend, weil der Jüngere nun der Aktive ist, der sich Erinnernde, aber immer wieder eingreift, reagiert. So staffelt sie gekonnt die Bilder, nimmt ihnen den Stationencharakter und hält das Geschehen doch klar am Laufen.
Komischerweise wirkt es aber trotzdem nie so hektisch, angespannt und überzeichnet wie in anderen Inszenierungen. Dreimal darf der alte Alexej aus dem Off zu lauernd düsterem Paukenwirbel zusätzlichen Original-Dostojewski-Text sprechen. Karin Henkel geht aber niemals dem bei dem jungen Prokofiew angelegten Überzeichnungsfuror auf den Leim. Alles ist ja schon karikaturhaft genug, denn jeder dieser herzlich unsympathisch gezeichneten Figuren verzehrt sich nur nach Geld. Die Liebe bleibt da sowieso auf der Strecke, aber selbst die guten Sitten, Familienbande, Versprechungen werden negiert, alle zocken nur um den eigenen Vorteil.
Das ist so vergnüglich, wie bisweilen auch schnell ermüdend. Karin Henkel aber zeichnet nicht schwarzweiß, sie hält ihr Personal schillernd bunt, genau auf der Schwelle zwischen Type und Individuum. Da sind die wendigen Speichellecker Baron (Markus Suihkonen) und Marquis (Michael J. Scott) und Alexejs nicht mehr zahlungsfähiger Brötchengeber, der General a. D., den Eric Halfvarson mit Stimm- und Leibesfülle als am Tropf hängenden Tropf vorführt, ein gefährlich unberechenbarer freilich. Kai Rüütel ist mezzosirenenblond dessen stoisches Betthäschen. Bühnenfüllend gibt Renée Morloc mit mächtiger Divenröhre die Babulenka, jene reiche Großtante auf deren Tod alle warten, die aber lieber quicklebendig und ungerührt ihr Vermögen verspielt. Irgendwie ambivalent steht Polina dazwischen, angewidert, aber auch angefixt von der Jagd nach dem Scheinen. Anna Nechaeva mit ihrem robusten, doch durchscheinenden Sopran hält deren Fühlen spannend in der Schwebe. Immer wieder denkt man, mit ihr und dem zunehmend in Konfusion sich auflösenden Alexej könnte es doch noch was werden, aber dann schmeißt sie ihm herzlos die von ihm gewonnenen Scheine als Ablassgeld ins Gesicht.
Vorangetragen und getrieben, ohne laut aufzutrumpfen und in pausenloses Dauer-Ostinato zu verfallen, wird das großartig von Dmitri Jurowski am Pult des Symphonisch Orkest Opera Vlaanderen. Juowski hält wunderbarerweise die (An-)Spannung ohne anzustumpfen, zeigt sich flexibel in der knatternden Rhythmik, den vielen, von den Streichern wie im Akkord gefiedelten Noten. Er entdeckt zwischen den energetischen Ausbrüchen spätere „Romeo und Julia“-Zartheit, Weills Blech-Sarkasmen, einen stoisch-trocken, trotzdem süffigen Klangzeitgeist. Das ist so ungewöhnlich Prokofiew-animierend wie auch diese lebendig kluge inszenatorische Umsetzung. Glück gehabt im Opernspiel, da geht künftig noch viel. Nach diesem gelungenen Debüt werden sicher nicht nur die deutschen Opernhäuser bei der wählerischen Karin Henkel Schlange stehen.
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