Am Ende fehlten ihm dann doch fast die Worte. Nach 16 nicht immer turbulenzenfreien Jahren als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bedankte sich Simon Rattle für das letzte Konzert in der Philharmonie (das übliche Waldbühnen Open-Air-Spektakel inklusive „Berliner Luft, Luft, Lift“ steht noch am Samstag an) bei seinem Orchester wie beim Berliner Publikum. Dann ließ sich der 63-Jährige ausgiebig feiern. Es gab Umarmungen von einigen Musikern, Standing Ovations vom Publikum (darunter die Bundeskulturministerin, der Musikfestchef, die amtierende und drei Ex-Philharmoniker-Intendanten, Rattles Ehefrau, Sohn, Anwalt und Agent). Es war aber kein Hochamt, wie beim damals 2001 eben dem Magenkrebstod von der Schippe gesprungenen Claudio Abbado. Es war eher ein sachlicher, ehrlicher Jubel, bewundernd aber enden wollend. So ähnlich wie auch das vorangegangene Finale von Gustav Mahlers Sechster Sinfonie, die schon 1987 auf diesen Pulten lag, als ein 32 Jahre alter noch schwarzgrauer Lockenkopf aus Liverpool hier sein Debüt gab.
Immer apokalyptischer zerklüftet, in zwei Hammerschlägen kulminierend, dabei kräftig energetisch vorangetrieben. Der lange letzte Satz wirkt ein wenig wie die nicht ohne Widerspruch und heftigen Diskussionen im Orchester abgelaufenen Rattle-Jahre. In denen man sich immer wieder zusammengerauft hatte und sich auf das Wesentliche konzentrierte: die Musik. Grandios zu sehen, zu spüren und fast körperlich zu erleben, wie sich die Musiker und ihr Antreiber einen sportiven Kampf um die Sache liefern, wie der Schweiß strömt, die Endorphine aufploppen, Energie und Euphorie fast zu greifen sind. Rattle kommt aus einer Arbeiterstadt und das spürt man immer. Da ist keine vergeistigte Attitüde, da wird mit dem Stab geführt, gerührt, gerockt.
So ungestüm stürmt auch bereits der erste Satz im Marschtempo voran, entfaltet sich, breitet sich aus. Ein Fanal, ein Statement, unbekleidet, nicht eingerahmt. Nur dieses große, mitunter grimmige Stück bedeutender europäischer Musikgeschichte. Das schließlich doch in fanfarenartigen Unisono-Momenten endet, wieder strauchelt, schwankt, schließlich leise, zweifelnd, seinen Schlussakkord findet, grüblerisch, schnell weggetragen. Dann Stille, bevor sich langsam steigernd der ehrliche nicht übersprudelnd jubelnde Beifall einsetzt. Das ist so ungeschminkt wie ehrlich. Sollen anderen deuten, philosophieren, Rattle quetscht es aus den Noten, dass hier aus einer nicht mehr glaubhaften Spätromantik die Musik des 20. Jahrhunderts entsteht. Und das es über hundert Jahre später immer noch aufregend ist, dem zuzuhören.
Am ersten Konzertmeisterpult sitzt wie 1987 Daniel Stabrawa, am Ende umarmen sich zwei nun graue Männer lange. Fast 90 Minuten hat es diesmal gedauert, die ernste, erlesene Exegese durch ein sinfonische Jammertal, das nur wenige Jubelmomente bereithält, das aber trotzdem in seiner musikalischen Auseinandersetzung mit Sein und Schein von der ersten bis zu letzten Note die Spannung hält. Auf dem Podium klumpen sich 116 Musiker, hinter der Bühne zudem die Herdenglockenklingeler, das hat einen dunklen, harsche, allein von zehn Kontrabässen immer wieder angeschlagenen Tonfall. Alles ist hier Rhythmus, die wehmütigen Mahler-Melodien haben kaum eine Chance, nicht einmal im Andante moderato.
Souverän spielt das das gesamte Orchester, das ganz dicht bei seinem Chef ist. Apokalypse wird mit Exzellenz beantwortet. Ob so eine zunehmend heillose Welt zu retten ist? Zumindest wird sie für Momente ertragbarer. Weil hier Kontrast und Stillstand, Überraschung und Überwältigung, Exzentrik und Zartheit zumindest ein großes, widerstreitendes Klangganzes ergeben. „Sie sind tief in meinem Herzen gebunden. Danke für alles“, das sind Sir Simons kurze, letzte Worte.
Der Beitrag Mit doppeltem Hammerschlag: Mahlers Sechste am Ende von Simon Rattles Berliner Chefzeit erschien zuerst auf Brugs Klassiker.