Europa ist augenblicklich ziemlich uneinig, und Barockmusik ist nicht immer nur elegant und nett. Zwei Erkenntnisse von den beiden Opernproduktionen der Musikfestspiele Potsdam 2018 – den letzten nach 28 Jahren unter Leitung von Mastermind Andrea Palent. Wie stets aus den Bilderprogrammen der Hohenzollernschlösser und deren Historie abgeleitet, hat sie sich zum Ende das universelle Thema „Europa“ gegönnt. Und das diesmal durchaus auch politisch beantwortet. Nämlich mit dem nur halbstündigen Opernprolog „L’Europa“ von Alessandro Melani, der in der Wiener Nationalbibliothek liegt. Da wird auf gewohnt patriarchalische um nicht zu sagen machohafte Weise davon erzählt, wie sich die aus dem Nahen Osten stammende Europa dem zum Stier verwandelten Jupiter hingibt – was man freilich auch als brutale Vergewaltigung deuten könnte. So tut es jedenfalls Thomas Höft durch einen eigenen Text, der dem Operchen vorausgeht und ihn unterbricht, um dies politisch anzuschärfen. Als musikalische Ergänzung wird dem die als multinationale Reise inszenierte Suite „Fasciculus I. Nobilis Juventus“ von Georg Muffat vorangestellt und zusätzlich Musik von Locke, Alessandro Scarlatti darin verwoben.
Zunächst betritt man durch den Jaspissaal die Ovidgalerie der Neuen Kammern. An deren weißen Wänden brachten einst Johann David und Johann Lorentz Wilhelm Räntz in goldenem Stuck Reliefs an, deren Motive den Metamorphosen des Ovid entnommen sind. Daphne, die vor Apoll flüchtet und sich in einen Baum verwandelt, ist dabei oder Danae, dem der geile Jupiter als Goldregen erscheint. Ein androgyner Erzähler in Rock und Netzstrümpfen (Michael Ihnow) will nun dem auf zwei parallelen Sitzreihen einander gegenüber platzierten Publikum von der Immigrantin Europa berichten, und – während in der Ecke die Neue Hofkapelle Granz unter Michael Hell (am Cembalo und auch Blockflöte) prachtvoll plastisch spielt – gleichzeitig mit immer neuen Flugtickets nach Amsterdam, Paris, London, Madrid uns EU-Bürgern zeigen, wie selbstverständlich Reisefreiheit geworden ist.
Dann endlich werden die zwei bisher starren Gestalten lebendig, geweckt vom in halbkurzen Hosen servil herumwuselnden Amor (countertenorgewandt: Nicholas Tamagna): der in der Mitte dahingegossene Jupiter (baritongewaltig: Renato Dolcini) und die Rand zwischen längst an die Zuschauer verteilten Schuhen und Stofftieren als vom Meer freigegebene Hinterlassenschaft wohlmöglich toter Flüchtlinge. Der kurze, in goldene Sonnuntergangs-, dann dieses imitierende Scheinwerferlicht von außen getauchte Abend will sensibilisieren, aufrütteln, auch aufwühlen. Das gelingt ihm. Weil gefühlt minutenlang zu den Zuschauerfüßen Europa von Jupiter mit Gewalt genommen wird, und diese – hinreißend volltönend und dunkel glühend gesungen von Roberta Mameli – trotzdem solches als gegeben hinnimmt. Die Götter sind eben so, Amor fungiert dabei als skrupelloser Anfeuerer.
Regisseurin Deda Christina Colonna lässt an Europa kein gutes Haar. Opportunistisch klopft sie sich den Staub oder was sonst aus den Kleidern, bewegt sich Richtung Ostausgang und verschwinden in einer riesigen Edelboutique-Tüte. Aus der taucht sie laufstegtauglich und nicht mit ihren Reizen geizend als Supermodel Europa im Karten-Catsuit auf hohen Hacken in den Farben ihren Perücke auf. Sie will Karriere machen. Nur der untröstliche Erzähler, der schickt der skrupellosen Tat zynisch und trotzdem anrühend Martinis „Plaisir d’amour“ mit dem zeitgenössischen Text „Can’t help falling in love“ sowie ein tunesisches Gedicht hinterher. Wir aber werden künftig die gemalten Allegorien mit der nackten Schönen und dem netten weißen Stier, an den geschmiegt sie durchs Wasser pflügt, mit ganz andern Augen sehen.
Gewohnt frugal und opulent, dabei durchaus auch anspielungsverliebt und edel geht es am nächsten, perfekt italophilen Sonnenuntergangsabend vor und im Orangerieschloss Friedrich Wilhelm IV. zu. Da ist sind Gebäude und Garten bereits die kaum zu übertreffende Ouvertüren-Staffage, doch auch „L’Europa galante“, das erste, 1697 uraufgeführte Opéra-ballet von André Campra kann sich mit seiner gefällig unterhaltsamen Melodik und seinen abwechslungsreichen Tänzen sehen lassen.
Hier wird es zu einem Plasureground für die Jugend, über 20 Jungs und Mädchen kommen in eiscremebunten Kleidern auf das Bühnenpodest gestürmt. Die nun wollen die folgenden zweieinhalb Stunden nichts weiter als über die Freunden und Probleme der Liebe improvisieren, und das Vergnügen als Stationenreise durch diverse Länder und ihre klangliche Eigenheiten ausgegeben. Das geht improvisiert mit England los und wird gleich verworfen, während nun scheinbar Frankreich ausgewählt wird. Diese Lusttrip kommt etwas langsam auf Touren, mit Stabpuppen mit Fächerkopf und Tellerschädel als Venus und Zwietracht, die das leicht gewirkte Divertissement emotional vorantreiben.
Als Koproduktion der Compagnie de Danse L’Éventail, Les Folies Françoises & Collegium Marianum sowie Les Chantres Centre de musique baroque de Versailles ist das insgesamt trotzdem eine wohltönende Sache, frisch gesungen und von Patrick Cohën-Akenine mit viel Elan abwechslungsreich dirigiert. Und auch szenisch erweist sich diese von Vincent Tavernier inszenierte Liebesreise durch den alten Kontinent als galante Unterhaltung pur. Da feiert man einen italienischen Maskenball, mit Pappfalten und –Fächern verkleidet man sich als Spanier. Der Obertürke hat eine Buchsbaumkugel als Turban auf und lässt die Bauchtanztruppenpuppen wackeln. Post-It-Zettel ergeben ein Harlekin-Wams, Lampions werden zur Dekoration geschwenkt.
Da ist nicht mehr dahinter, als zu sehen ist – und das macht Sommervergnügen. So ist die gern eskapistische Potsdamer Welt wieder fein ausbalanciert. Die nächste schlechte Nachricht kommt sowieso…
Der Beitrag Musikfestspiele Potsdam: Zweimal Opern-Europa, einmal vergewaltigt, einmal als Divertissement gefeiert erschien zuerst auf Brugs Klassiker.