Unziemliche Gedanken, wenn man bei glasiger Abendsonne und 36 Grad im Windschatten der Alhambra am nächsten Tag durch den Hotelpool plantscht: Wie mögen die es wohl in Berlin haben, wenn für die finalen Waldbühnen-Auftritte Simon Rattles als Philharmonikerchef gerade einmal 18 Grad und Regen angesagt sind? Für gewöhnlich hat es im kühlen Freiluftgrunde meist noch ein paar Grad weniger. Deutschland ist eben kein Open-Air-Land, selbst schuld. Spanien aber schon, Andalusien insbesondere. Da weiß man nur nicht, wann die Musiker eigentlich hitzegeplättet probieren. Aber zumindest warmspielen muss sich hier keiner. Mit ihrem Festival internacional de Música y Danza ist die südspanische Stadt Granada Gastgeber für das größte Musik- und Tanzfest der Region, immer im Juni, bevor es wirklich so richtig heiß wird. Seine Ursprünge reichen bis in das Jahr 1883 zurück, als im runden Hof des Palastes Karl V. Sinfoniekonzerte stattfanden. Auch Musik von Wagner war hier erstmals in Spanien zu hören. Seit 1922 gibt es zudem den Cante-Jondo-Wettbewerb an der majestätischen Plaza de los Aljibes der Alhambra, an dem einst sogar Manuel de Falla, Federico García Lorca oder Santiago Rusiñol teilnahmen. Eben hat das 67. Granada Festival begonnen. Und das wird jetzt erstmals von einem 41-jährigen Polizeioffizierssohn der Stadt geleitet, der inzwischen zu einem weltberühmten Dirigent herangereift ist: Pablo Heras-Casado.
Da schlägt ein Vogel an, Jasmin und Myrre duften, Rosen stehen immer noch in vollster Blühte, vor kurzem erst ist die Sonne hinter von Zypressen eingerahmten uralten Zinnen, Türmen und Kuppeln untergegangen. Spaziert man relativ spät durch Generalife-Gärten zur Alhambra, dann wähnt man sich ganz allein in einem bald startenden Konzertzaubermärchen. Doch schnell wird es heller, die kannelierten Säulenfassaden des machtbewussten Karlspalastes tauchen scharf scheinwerferbeleuchtet auf, der Menschenstrom wird dicht. Alle 1100 Ticketbesitzer müssen durch das schwere Holztor, die Treppe und drei weitere Eingänge hinauf, wo diese ovale Innenhof sich dann wie eine Arena darbietet. Genau rechts über den Dach steht der Dreiviertel-Mond. Als Anfangs- und Pausenzeichen erklingen Akkorde aus Debussys Iberia.
Das Eröffnungskonzert unter neue Ägide könnte stimmiger nicht beginnen: Mit Claude Debussys wohlig sich räkelnden Flötenlinie des „Prélude à l’après-midi d’un faune“. Vor einer Woche war ich noch in St. Germain-en-Laye bei Paris in dessen bescheidenem Geburtshaus gestanden, jetzt gedenken sie seiner in Spanien zum 100. Todestag. Pablo Heras-Casado liebt Debussy, gerade hat er bei harmonia mundi für deren Jubiläumsserie mit dem Philharmonia Orchestra La Mer und die Suite aus „Le Martyre de Saint-Sébastien“ eingespielt. Aber der Andalusier mit den schon grauen Schläfen schätzt auch historische Instrumente. Und so ist seine Einladung für den Auftakt seiner Intendantenära an das französische Ensemble Les Siècles natürlich auch ein deutliches Zeichen. Während so manche Andalusierin im Publikum immer noch die ganz altmodisch die Carmen heraushängen lässt – in Rot natürlich, mit goldenen Ohrringen und möglichst vielen Troddeln, Fransen und Quasten – gibt sich der Mann auf dem Podium hochgeschlossen ernst im Stehkragenjackett. Auf dem schnell die Schweißperlen glänzen. Bei den Abgängen zwischen den Stücken sieht man ihn an der Seite sich trocknen und trinken.
Les Siècles ist ein flexibles Period-Orchester jüngeren Bauart, sprich: Man erweitert und passt sich instrumental den jeweiligen Werken an. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Und selbst bei Debussy gibt es da eben deutliche akustische Unterschiede zu einem modernen Sinfonieorchester. Wunderbar, wie die Glissandi der Hörner leicht quäkig kommen, wie in „Ibéria“ das Holz distinguiert näselt als spielte es Strawinskys Sacre. Debussy fast vibratolos und strukturklar, das lässt jeden impressionistischen Nebel vermissen, der ihm so verhasst war. Und für zusätzliche Stimmung sorgt sowieso die südlich-samtige Nacht.
Herrliches Sinneseindrücke sprudeln da auf, Spannung wird fragil gehalten, tänzerisch toll wird es auch in La Mer, dessen Glitzern und Schillern selbst tief im Land tönend zu spüren ist. Nur die Première suite d’orchestre, erst 2012 wiederentdeckt und seither sehr gern von Les-Siècles-Gründer François Xavier Roth (er tritt im zweiten Konzert ans Pult) programmiert, bleibt auch hier ein (im Vergleich zu den anderen Stücken) klangfades, eindimensionales Stückwerk, ein jugendlicher Versuch eben. Ganz weit weg aber ist bereits der geziemt ausgelassene Ryanair-Flug ins prollige Paradies Málaga (bzw. Torremolinos). Denn schnell wird die Costa del Sol linksliegen gelassen, der Mietwagen nimmt directement die Autobahn nach Granada durch liebliche Olivenbaumhügel und in den Sonnenuntergang. Da kommt automatisch Festivalstimmung auf.
Halb elf Uhr ist in Granada die ortübliche, klimatypische Konzertanfangszeit. Da wird es, mit Zugabe, der diszipliniert gesteigerten Farandole aus Bizets 2. Arlesienne-Suite (man ist hier nicht Debussy-apodiktisch), schnell ein Uhr nachts, bis alle Geladenen beim Eröffnungsempfang sind. Im Carmen de los Mártires, einem heute verwunschenen Garten um die Alhambra-Ecke, wo früher angeblich Christen Erschöckliches passiert sein soll, haben sich einige der Festival-Sponsoren aufgestellt. Die kommen praktischerweise aus der Gastronomie, sind Bier- und Schinkenfabrikanten. Vor einer Riesentüte baut man sich zum nicht enden wollenden Foto Call auf. Da muss auch Pablo Heras-Casado, jetzt in gestreiftem Tuch und mit Gattin ran; seine (nicht natur-)blonde Frau Anne Igartiburu Verdes ist schließlich eine landesbekannten TV-Moderatorin und Schauspielerin. Also nimmt man ältere Damen in den Armen und präsentiert sich mit Jamón-Platten, auf denen aus Speck ein Dirigent nachgebildet ist. Es sprudelt der Granada- sprich: Granatapfelsaft und die Alhambra-Jahrgangs-Cerveza. Und so ist es ganz schnell drei Uhr. Ein Käuzchen und das hier überall seit den Mauren gluckernde Brunnenwasser begleiten einem auf dem Hotelheimweg.
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