Es gibt wohl wenige Musikfestivals, wo man in einer Stunde von 2600 Metern und Schnee in Sichtweite bequem in eine Stadt mit Palmen, grandiosen Gärten und viel Weltkulturerbe hinabfahren kann. Granada und die nahe Sierra Nevada machen es sogar noch kurz vor Konzertbeginn möglich. Und dessen 67. Musik- und Tanzfestival, das diese Jahr etwas reduziert aber qualitätsmäßig optimiert stattfindet. Bei der letzten Ausgabe, der 16. Saison des scheidenden Intendanten Diego Martinez, kam man auf 94 Prozent Auslastung mit knapp 57.000 Besucher. Nun hat der hier geborene Dirigent Pablo Heras-Casado, der im erst 1929 mit einem Dach versehenen Palacio de Carlos V. erstmals vor sechs Jahren mit dem Freiburger Barockorchester aufgetreten ist, den Direktorenstab übernommen. Seit 1970 bietet das Festival zudem die Manuel de Falla-Kurse für Studenten und junge Musikprofis, seit 2004 gibt es das Fex – Festival Extensión –, das hinaus in die Stadt wirkt und niedrigschwellig die Einwohner und ihr Kinder für Klassik begeistern will. Heras-Casados heutige erste Aufgabe: einen Kooperationsvertrag mit dem Institut Français unterzeichnen. Solches findet bei einem kleinen Empfang auf der Palceta de Los Aljibes zwischen Karlspalast und der ruinösen Wehrburg Alcazaba statt, dort wo 1927 der Cante-Jondo-Wettbewerb neubegründet wurde, der letztlich 1952 zum professionellen Start der Festspiele führte. Eine Kachelplakette mit Schnörkelschrift verweist an einer Mauer darauf. Und noch immer liegt der Augenmerk auch auf spanisch-andalusische Musik und Flamenco, neuerdings auch auf barocker Chorliteratur in den Kirchen. Es gibt Radio und TV-Übertragungen, auch Arte ist dabei. Bei nur 3,4 Millionen Euro Budget kostet die teuerste Karten 85 Euro für Konzerte und 65 fürs Ballett. An den dieses Jahr zehn Spielstätten sind die Programmhefte umsonst, überall hat sich gute Gastronomie aufgebaut.
Oben kreiseln im Dämmersturzflug die Schwalben, unten perlt im Glas der Cava. Und nicht weit weg, sie leuchtet geheimnisvoll im Dunkel, steht die Puerta del Vino, jenes Palasttor, dessen von de Falla an Debussy versendetes Postkartenfoto diesen zum gleichnamigen Prélude inspirierte. So ist hier auf Schritt und Tritt stolz erinnerte Musikgeschichte zu finden.
Die „Puerta del Vino“ erklingt selbstredend im runden Karlspalastinnenhof auch kurz vor der Pause als Zugabe von Jean-Efflam Bavouzet, der elegant die César Franckschen Variations symphoniques auf dem Klavier mitgedonnert hat. Das effektvolle Minikonzert war der traumsicher, doch schlank seine Wirkung erreichende Halbzeitrausschmeißer, mit dem François-Xavier Roth im zweiten Konzert seines Les Siècles-Orchester (kommt in zwei Jahren endlich mal zum Musikfest Berlin) ein franko-belgisches Programm aufgehübscht hat. Zu Einstimmung gab es – natürlich – Claude Debussy, die handfeste Marche écossaise sur un thème populaire und das so schmerzlich selten gespielte Nijinsky-Tennisballett „Jeux“. Unter Roth und mit diesem fluoreszierenden Klangkörper erfuhr das eine absolut passgenau sachliche wie sportive Anmutung. Man meinte förmlich, die Aufschläge und verpassten Bälle zu hören. Genial!
Pünktlich nach der Pause gurren sich drei auf einem Säulenabsatz verharrende Tauben wohlig durch die „Nuages“ unter jetschwarzem Himmel. Wahrhaft animalische Debussy-Liebhaber offenbar. Diese drei Nocturnes, sie sind eine Roth-Spezialität, so spannungsvoll und gleichzeitig gelassen, ja lässig, voll Parfüm, aber ohne klebrige Sentimentalität. Ein flüchtiger Klanghauch nur, wie eine Vision, in den „Sirènes“ zusätzlich beflügelt von den zwischen den Musikern summenden Frauen des Chors des 1990 gegründeten Orquesta Ciudad de Granada, das Pablo Heras-Casado während des Festivals ebenfalls noch leiten wird.
Als fulminantes Finale hat François-Xavier Roth Camille Saint Saëns’ Bacchanale aus „Samson et Dalila“ gewählt. Das bekommt mit den alten Instrumenten einen witzig blechernen Hauch von Tingeltangel und anrüchig puffiger Salonschwüle. Herrlich! Passen dazu auch, ganz besonders in Andalusien, die philisterlichen Kastagnetten. Als Zugabe dann wieder was aus der 1. Arlesienne-Suite Bizerts. Diesmal als Antiklimax das nur 34 Takte kurze, melancholiesatte Streicher-Adagietto. Und wieder geht es hinaus in die südliche Nacht, der neuerliche Gang durch die stimmungsvoll beleuchteten Gärten scheint von stummen Tönen erfüllt.
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