Die Salzburger Festspiele riechen nicht. Das Granada Festival schon. Nach Jasmin und Orangen, nach Oleander und Feigen, nach Pinien und Buchs, einfach nur nach Grün und nach Gärtnerarbeit, sofort wenn man dieses Naturparadies um die Alhambra und die Generalife-Anlagen betritt. Das Granada Festival tönt auch: nach Vögeln und Fröschen und Zikade. Ja, ab und an hört man auch noch ein Flugzeug auf dem Weg nach Málaga. Doch diese unnachahmliche Konzert der Urnaturlaute, es putzt natürlich auch Sidi Larbi Cherkaouis Hommage an den Debussy/Nijinsky-Faun ungemein. Noch dazu vor einer echten Zypressenkulissen, wie sie hier auf der atmosphärischen Freilichtbühne steht. Da funktionieren die 1909, zum 100. Jubiläum der Ballets russes herausgekommenen „Ich Tarzan, du Jane“-Anspielungen in diesem zum Ur(wald)menschen-Duo erweiterten, auch die Musik aufbrechenden Solo noch besser. Auch weil die einstige Waldkulisse – halb Fototapete, halb malerische Vision – diesmal real ist. Scheint Philippe Lens, von Hussein Cahlayan in eine gefältelte Badehose gesteckt, in seinen anfänglich anzüglichen Bewegungen dem einst sich nur skandalös selbst vergnügenden Faun Nijinskys ähnlich, so taucht doch bald – schöner Rest der einstigen Nymphen – eine Partnerin (Nicola Wilis) auf, mit der er sich im Pas de Deux vereinen darf. Wo 1911 der wie ein Relief streng parallel zu Rampe agierende Solist als unerhört empfunden wurde, ereignet sich nun ein eigentlich konventioneller Paartanz. Der aber ist so fließend delikat, dabei langsam sich sinnlich steigernd und endlich erotisch aufgeladen, dass man sogar die Unterbrechung der trägen Debussy-Flötenklänge mit fremden Musikmaterial verzeiht.
Dieser „Faun“ gehört zu den besten Neuinterpretationen des oftmals benutzten, jedoch auch malträtierten Werkes. Und ist der hier beziehungsreich gesetzte Schlusspunkt des Gastspiel des Ballet Vlaanderen, das seit drei Jahren unter Cherkaouis Leitung steht und vor 35 Jahren zuletzt her auftrat. Im beim aktuellen Granada-Gastspiel gezeigten Dreiteiler noch enthalten: Cherkaouis „Feuervogel“; als Gerippe in der späteren Suitenform Strawinskys, eine weitere Ballets-Russe-Weiterschreibung, der er sich einmal mehr stilistisch häutet. Für Cherkaoui war das 2015 in Stuttgart eine Gelegenheit, nicht nur sein zeitgenössisches, sondern auch sein danse d’école-Können zu zeigen, ohne gleich ein ganzes Handlungsballett erzählen zu müssen. Und in Granada sollen beiden Stücke daran erinnern, dass die legendäre Russentruppe vor 100 Jahren hier gastierte, weil sie sich im Ersten Weltkrieg nach Spanien zurückgezogen hatte.
Charkoui aber lässt in seiner Neufassung um ein feuervogelrotes Girl die Stoffbahnen wallen. Sieben Tänzerinnen und neun Tänzer brechen aus einem sich in spiegelnde Teile zerlegenden geometrischen Körper hervor, fluten, schweben und springen über die Bühne. Cherkaoui formiert sie in stetem Fluss originell neu, entzieht sich geschickt jeder Deutung, bewegt sein rasantes Ensemble in impressionistisch anzusehenden Wirbeln und intensiven Einzelmomenten. Und die sportive Truppe kann zeigen, dass sie ihre Energie noch nicht gänzlich in lustig-graziösen Instagram-Fall-ins-Wasser-Formationen am Hotelpool aufgebraucht hat.
Im Mittelteil aber regieren die Amazonen. Die der Martha Graham, wie sie seit 1936 in „Chronicle“ zu Wallingford Rieggers martialisch-perkussiven Klängen schwarzen Rock streng die Szenen abschreiten. Zunächst aber arbeitet sich ihre Königin, mit offenem Haar und rotem Wallekleid, einer Carmen nicht ganz unähnlich, auf zwei kreisrunden Podesten solistisch ab. Als Powerfrau und sehnsuchtsvoll Suchende, ritualhaft und atavistisch. Aus dem einstigen Dreiteiler wird seit 1988 nur noch das Mittelstück gezeigt. Und auch die damaligen Anspielungen auf die große Depression in Amerika und den Spanischen Bürgerkrieg sind unter einer puristischen Oberfläche klassizistischen Modern Dance verschwunden.
Doch mit so viel Energie und Leidenschaft getanzt, besonders wenn im letzten Teil die schwarzen Frauen mit ihrer nun weiß gewandeten Anführerin vereinen und konfrontieren, entfacht das mit seinen Schattenspielen auf der weiten Fläche unter dem Fast-Vollmond einen einzigartigen Zauber. Und zeigt, wie natürlich beim Granada Festival die Formel Konzert + Tanz an den spezifischen Spielorten aufgeht.
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