Im Patio de los Arrayanes, dem Myrtenhof gleich neben dem noch berühmteren Löwenhof der Alhambra von Granada, stehen heute Buchsbäume und ausnahmsweise 38 Reihen Sitze an den Seiten, etwa 350 Personen finden hier exklusiv Platz – im vielleicht schönsten, sicher besonders atmosphärischen und geschichtsträchtigen Kammermusiksaal der Welt. Der Nachhimmel ist das Dach und das Limit für die Künstler, ein Wasserbecken bedeckt weite Teile des Bodens. Hinter dem Podest unter einer Bogenreihe an der Schmalseite führt eine schönen Holztür in den Botschafter- oder Thronsaal der Nasridendynastie im Comares Turm, der sich auf dem fast kräuselfreien Wasserspiegel doppelt. Angeblich fand dort die Ratssitzung statt, in der beschlossen wurde, dass Granada von den Mauren an die Katholischen Könige übergeben werden sollte. Einer weiteren Legende nach soll Christoph Kolumbus hier Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon von seiner Expedition nach Indien überzeugt haben, während der er am 12. Oktober 1492 Amerika entdeckte.
Hier also findet jetzt der Debussy-Schwerpunkt zum 100. Todestag, der sich wie ein roter Faden durch das erstmals von Pablo Herras-Casado programmierte Granada Festival zieht, seinen spirituellen Höhepunkt. Puristisch, klar, schnörkellos, so wie es von Pierre-Laurent Aimard am Klavier zu erwarten ist. Konzentration total, Struktur, Farbe, Abmischung, Rhythmus. Einzige Ablenkung bieten Nachtfalter, Fledermäuse und Schwalben, die sich im Sturzflug durch den Hof bewegen sowie eine Katzenmutter nebst Junges, die gelassen zwischen den Stuhlreihen streifen. Einmal plärrt kurz Popmusik von irgendwo, offenbarend, dass hinter und unter der historischen Kulissen auch noch eine Stadt wach ist. Aimard ist zunächst unschlüssig, pausiert, spielt aber dann souverän weiter. Nach Mitternacht scheint endlich alles still.
Er beginnt mit „Le Tombeau de Claude Debussy“ jenem Kollektivwerk, das Henri Prunières, Chef der „Revue musicale“ 1920 bei anderen, befreundeten Komponisten bestellt hatte. Von den zehn Stücken sind fünf zu hören, die Klaviersolostücke von Paul Dukas, Gian Francesco Malipiero, Eugène Goossens und Béla Bartók sowie die Klavierfassung von Ausschnitten aus den Sinfonien für Bläser von Igor Stravinsky. Aimard spielt das, mit Noten, betont nüchtern, kristallin, objektiv. Es folgen, ohne Noten, gelöster, träumerisch zart, die beiden Bücher der „Images“. Die „Reflets dans l’eau“ finden hier nicht nur ihr vollkommenes örtliches Äquivalent. Gravitätisch breitet sich die „Hommage à Rameau“ aus. Sehr passend silbrigfein auch „Et la lune descend sur le temps qui fût“, auch wenn der Vollmond von Publikum aus nicht zu sehen ist. Lebhaft wedeln die „Poissons d’or“, und auch im Wasser stoßen sie immer wieder Kreise ziehend zur Oberfläche vor.
Nach der Pause folgen die Zwölf Études. Pierre-Laurent Aimard, der eben ganz wunderfein Messiaens „Catalogue des Oiseaux“ für Pentatone eingespielt hat (wo einem beim Öffnen der Schachtel echt zwei Vogelfedern entgegenflattern), ist der Meister des Zyklischen. Immer behält er den Überblick, scheint vorauszuahnen, was kommt, reflektiert über schon Vergangenes. So bekommt die Werkfolge ohne jede Mechanik etwas unbedingt Folgerichtiges, präzise auf den Augenblick Konzentriertes, welches dennoch eingebettet ist in ein größeres Ganzes. Alles Spröde, die diese ja auch als technische Übungen zu begreifende Stücke bisweilen bekommen, ist hier wie weggefegt. Es geht eben nicht nur um Triolen und Oktaven, Chromatik und Arpeggien, sondern um ein übergeordnet philosophisches Ganzes. Aimard verwandelt Noten in Poesie, Fingerfertigkeit in Transzendenz. Das ist so einfach wie perfekt, so spielerisch wie geistvoll. Und wunderbar ausbalanciert in seiner Mischung aus Herz und Verstand. Trotzdem: keine Zugabe. Die Musik soll gerade in dieser besonderen Umgebung für sich stehen, sie nicht anekdotisch sentimentalisieren.
Das hat er, natürlich auf allerhöchstem Niveau, schon tags vorher zur Dämmerstunde an einem eigens für ihn und ein paar TV-Kameras unter dem Bogen der Puerta de Vino aufgestellten Flügel realisiert. Claude Debussy war nie in Andalusien, doch er hat drei Klavierstücke Granada gewidmet. Während auch hier eine Katze vorbeistreicht (so wie vorher schon ein aus einem Baum beim Sponsorenempfang laut schreiend ihre Besitzansprüche verteidigte und eine andere zwischen den Signetseilen von „Cerveza Alhambra“ herumirrte), interpretiert er diese imaginäre Granada-Klaviertrilogie der insgesamt fünf Spanien gewidmeten Werke Debussys, der selbst lediglich einmal kurz von Frankreich nach San Sebastian gekommen ist. Neben der „Puerta de Vino“ im Habanera-Rhythmus aus den zwischen 190-13 entstandenen Préludes sind das die nach einem Hof im Alhambra-Palast benannte „Lindarja“ von 1901 für zwei Klaviere sowie die „Soirée dans Granada“ aus den Estampes von 1904. Hier bemüht Debussy schon im Titel die Kupferstiche, die im 19. Jahrhundert die romantische Granada-Sehnsucht anheizte, wie auch die ungemein populären „Tales oft he Alhambra“ von Washington Irving, nach dem auch ein Hotel in Burgnähe benannt ist.
Auch der später hier lebende Manuel de Falla, an den sein bescheidenes Haus inklusive aller Tablettenschachteln als Museum neben dem ihm gewidmeten Auditorium in Alhambra-Nähe erinnert, hatte Granada noch nicht gesehen, als er den ersten Teil der „Nächte in spanischen Gärten“ der Stadt widmete. Pablo Heras-Casado will diese klingende Tradition (die auch in den in der Arte-Mediathek zu sehenden Dokumentation „Die Musik der Alhambra“ klingt) jetzt fortsetzen. Deshalb hat er für sein zweiten Konzert beim Granada Festival mit dem städtischen Orchester eigens eine Komposition bei José María Sánchez-Verdú bestellt, die sich auf die Alhambra bezieht. Dafür studierte dieser die geometrischen Muster auf den Kacheln, den Azulejos, und in den Holzgittern, den Celosías. Er ging sogar mit einem Mathematiker in die Burg: „Es gibt 19 verschiedene Formeln auf den Azulejos. Diese Strukturen sind extrem musikalisch. Die Araber arbeiten mit dem Licht, mit vielen Schleiern, mit Rhythmus, Zahlen und letztlich mit der Zeit. Denn man muss die Strukturen lesen und im Raum wahrnehmen.“ Möge sich also auch diese Uraufführung einfügen in den klugen Leitspruch dieses über zwei Wochen und drei Wochenenden laufenden, so hochkarätigen wie lässigen, intelligenten wie entspannten Festivals: „Von den Sinnen für die Sinne“.
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