Große Freude. Eigentlich. Marco Goecke, gegenwärtig nach seinem rüden Rauswurf als Stuttgarter Hauschoreograf und vor seinem Amtsantritt 2019 als neuer Tanzchef an der Staatsoper Hannover in einer Zwischenphase, nobilitiert das Ballettensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters mit einer Uraufführung. Und das, wo doch die post-stalinistische Beinchen-Werf-Truppe des Staatsballetts nebenan unter Igor Zelinsky (dem bereits die enttäuschten Tänzer abhanden zu kommen drohen) nach vielem Bitten eben endlich einen ganzen Wayne-McGregor-Abend als stilistische Feigenblatt abbekommen hat – der dann doch optisch-ästhetisch auf hohem Mittelmaßniveau köchelt (die Münchner Uraufführung noch darunter). Goeckes Thema: Fellinis „La Strada“ mit der unwiderstehlich zirkushaft rumpelnden, von Trompetenpoesie überglänzten Nino-Rota-Filmmusik, die 1966 für die Mailänder Scala zu einem knappen (80 Minuten) Abendfüller geknetet und gestreckt worden war. Das Ergebnis: mau-mau. Goecke, den die Gattung Handlungsballett offenbar mehr und mehr reizt, kommt diesmal – anders als bei seinem hinreißenden „Nijinsky“ – nicht aus seiner stilistischen Schneckenhaus heraus. Alles ist zu sehr eingeengt, ja eingewickelt in seiner manischen Flügelarme und zuckenden Bewegungen. Vielleicht sollte er als nächstes Stück mal über Pasolinins „Große Vögel, kleine Vögel“ nachdenken?
80 Minuten können freilich sehr lang sein. Zu lang für eine kraftvolle Rhapsodie, die mit Themen aus „La Strada“ spielt, Gelsominas Versponnenheit, ihre Liebe zum brutal sie abrichtenden und zurückweißenden Artisten Zampano, deren Zuneigung zum Seiltänzer Matteo, die aber immer Bruchstücke bleiben, sich nur erschließen, wenn man den Film, zumindest aber die Handlung kennt. Zu peripher tauchen die Nebenfiguren auf, gar nicht deutlich werden Schauplätze. Michaela Springers wie immer dunkle Ausstattung mit knapp nostalgischen Zirkuskostümen und Stoffwellengewaber sowie einem Kornfeld im Hintergrund erklärt ebenfalls nichts wirklich. Vieles ist austauschbar, kaum charakteristisch.
So erlebt man immer wieder momentelang packende Charakterstudien der hochmotivierten Tänzer, aus denen Marco Goecke wie stets das Letzte an Präsenz, Energie und tänzerischer Kraft herauszuholen scheint, aber die ergeben keine schlüssigen, erklärbaren Figuren in Handlungensträngen, denen zu folgen ist. Es bleibt ein Parcours starker tänzerisch-mimischer Augenblicke; auch italienisch geredet und gebrabbelt wird, was die Protagonisten nur noch skurriler, surrealer, aber keineswegs in ihrer Dauerhysterie einleuchtend macht. Umhüllt werden sie freilich von den billig-innigen Klängen der herrlich schmeichelnden Rota-Melodien, die Michael Brandstätter aus der reduzierten und doch noch die Logen bespielenden Orchesterbesetzung mit Gusto herauskitzelt.
Ein wunderbarer, im Negativen anrührender weil seiner Gefühle nicht Herr werdender, mal düsterer, mal flehender Kraftlackel ist der muskelstrotzende Özkan Ayik als kettensprengender Zampano. Veróninca Segovias Gelsominia leidet ein wenig darunter, dass ihr Goecke kaum lyrische Momente gönnt, immer muss sie am Rande des Nervenzusammenbruchs spielen. Javier Ubell ist ein samtäugiger Seiljongleur mit einer Schwäche für Gelsomina, der Mord an ihm geschieht, wie so vieles, kaum wahrnehmbar nebenbei. Die übrigen 18 Ensembletänzer werden angeführt vom treuherzig rotnasig leuchtenden Italo-Clown Alessio Attanasio.
Und auch wenn der Abend als Handlungsballett missraten ist, er zeigt neuerlich Marco Goeckes faszinierend vielseitige, hier wieder besonders testosteronsatte, schweißtriefende Körpersprache, die sich durchaus auch für Charaktertanz eignet und er offenbart einmal mehr, was dieser Choreograf aus einer Truppe herauszuholen im Stande ist. Jeder Einzelne scheint da notwendig und besonders – auch wenn es diesmal nicht zum großen Ganzen langte.
Der Beitrag Gelsomina als Dauerhysterikerin: Marco Goeckes Münchner „La Strada“-Ballett verliert sich im Fragmentarischen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.