Ein Heimkehrer. Nicht Beckmann, nicht Boat People, nicht Mittelmeerflüchtlinge unser Tage. Oberst Chabert ist es, bei der Schlacht von Preußisch Eylau 1807 auf der Seite Napoleons verwundert und für tot erklärt. Als er Jahre später zu seiner längst wiederverheirateten Frau nach Frankreich zurückkehrt hat die zudem zwei Kinder und verleugnet ihn, um Familie und Stellung zu schätzen. Was misslingt. Am Ende will er sie freigeben und erschießt sich, sie aber nimmt Gift. Erdacht wurde die Novelle von Honoré de Balzac 1832, 1912 wurde daraus eine in Frankfurt uraufgeführte Oper des heute völlig vergessenen, aber hochinteressanten Hermann Wolfgang von Waltershausen, der auch als sein eigener Librettist firmierte. Und 2010 war das die letzte der nicht immer glücklichen Entdeckungen Kirsten Harms’ während ihrer Intendantinnenzeit an der Deutschen Oper Berlin unter Federführung ihres Chefdramaturgen Andreas K.W. Meyer. Damals war freilich kein Geld mehr da, aus der geplanten Inszenierung von Atom Egoyan wurden nur zwei semikonzertante Aufführung unter der packenden Leitung von Jacques Lacombe. Doch mit Manuela Uhl und Bo Skovhus waren tolle Sängerdarsteller aufgeboten. Und zum Glück wurden die nur 100 sengend intensiven Opernminuten von cpo mitgeschnitten.
Jetzt hat kürzlich die Oper Bonn, neuerlich unter Leitung es für zwei Jahre hier als Chefdirigenten wirkenden Lacombe und mit Meyer als Dramaturgen, die szenische Wiederaufführung des einst mit über 100 Produktionen europaweit ungemein erfolgreichen „Oberst Chabert“ nachgeliefert. Unter anderem weil hier ausführlich die Marseillaise als idée fixe zitiert wird, war nach 1933 das Stück nicht mehrwirklich gewünscht. Leider bleibt der Abend weit unter den Erwartungen. Jacques Lacombe greift in der eigentlich intimen, immer wieder parlandoleisen, aber eben oft auch zu Straussschen Klangschwallungen sich auftürmenden Partitur dynamisch ziemlich undifferenziert und pauschal durch. Vielleicht lag es auch nur am wenig nuanciert tönenden Beethovenorchester oder der knallige Akustik, dass die Musik diesmal ein wenig billig wirkte?
Gerade weil der der Stoff so historisch weggerückt erscheint, spürt man doch die Aktualität dieses heillosen, traumatisierten Heimkehrers, den keiner will, der stört, dem man die Glaubwürdigkeit abspricht, weil er allein durch seine Existenz das Lügengebäude der Zurückgebliebenen nicht nur mit Rissen versieht, sondern schließlich zum Einsturz bringt. Muss uns und ihn da wirklich der diesmal erstaunlich biedere Regisseur Roland Schwab in Zeitlupe durch die zerstörten, apokalyptischen Straßen Aleppos oder zwischen kafkaeske Aktenregalen wandeln lassen? Zumal zwischen den Figuren dann außer ausgestellter Operngestik herzlich wenig geschieht? David Hohmanns Einheitsbühnenbild zeigt vor der Videoleinwand einen zerschossene Raum, in dem sich die Pappbetontrümmer türmen und in dem es sich nur mühsam krabbeln lässt. Chabert schleppt sich auf seinen Krücken dahin, an einer Art Kanzel über dem Graben stellen sich alle jeweils auf, um von ihren spezifischen Wahrheiten in der Sache zu berichten.
Das ist alles sehr durchschaubar, zumal die Sänger ziemlich outrieren und dabei doch ständig an ihre vokalen Grenzen stoßen. Mark Morouse, der sich als krank ansagen lässt, hat für die Titelrolle Fülle und Wucht, aber wenig Zwischentöne zu bieten. Zwischen Hoffen und Verzweifeln ist das ein anrührender Charakter. Yannick-Muriel Noah im Glitzerkleid, aber mit wenig gleißendem Sopran unterspielt die Entwicklungsmöglichkeiten und Nuancen, die die hin- und hergerissene Rosine zwischen ihren beiden Männern pendeln lässt. Ein „ungenügend“ kann man nur dem schrill überforderten Tenor Peter Tantsits als Rosines neuem, adeligen Mann ausstellen. Im diesmal wirklich nur provinziellen Bonn erlebt man, dass diese Oper eine ähnlich erstklassige Umsetzung braucht wie in Berlin, um stimmlich wie interpretatorisch mitzureißen. Dann aber ist „Oberst Chabert“, gerade in seiner soghaften, orchestral auftrumpfenden Kürze ein wirklicher Klangthriller.
Der Beitrag Oper Bonn: Waltershausens „Oberst Chabert“ ist eine lohnende Wiederentdeckung – trotz der enttäuschenden Umsetzung erschien zuerst auf Brugs Klassiker.