Er mag es in seinen eigenen Kino- und Fernsehwerken tragisch und komisch, pathetisch und kitschig, am liebstes alles zugleich. Er mag Alte und Ausgegrenzte, Freaks und Familie. Sein absoluter Lieblingsfilm ist „Amadeus“. Über hundert Mal hat er ihn gesehen. Da fragt man sich eigentlich ziemlich erstaunt, warum es Axel Ranisch nicht schon früher zur Opernregie gezogen hat. Das fragt sich der 35-jährige Berliner Filmemacher, Produzent, Schauspieler, Autor und jetzt eben Opernregisseur übrigens auch. Vor allem, wenn es um die Opern- und Konzerthäuser zu Hause geht, die ihn, dieses wunderbare, schwärmerisch-menschliche Aushängeschild für Singen und andere exaltierte Gefühle als Lockvogel bisher total ignoriert haben. Echt wahr, wo doch alle nach einer glaubwürdigen, möglichst prominenten Persönlichkeit suchen, die die Klassik volksnah macht, zumindest ihre Liebe dazu ehrlich und authentisch rüberbringt. Da ist wirklich bei den sich so innovativ gebärdenden Berliner Musikinstitutionen noch keiner auf den freundlichen, liebenswürdigen Lichtenberger verfallen. Dabei gibt es kaum jemanden, der so sympathisch von seiner schrillen und skurrilen Leidenschaften zu berichten weiß wie, der eher bewegungsresistente Sohn zweier Ostberliner Leistungssportler, der 2011 und 2013 mit seinen total selbstfabrizierten Low-Budget-Filmen „Dicken Mädchen“ und „Ich fühl mich Disco“ zum Liebling der Kritik wie des Publikums bei diversen Filmfestivals avancierte. Und dafür sogar zum Hauptvertreter des Subgenres „German Mumblecore“ ausgerufen wurde.
Sofort nach deren Betrachtung durch den dortigen Intendanten folgte übrigens der Ruf nach Süden, an die exklusive Bayerische Staatsoper. Der dicke Ossi mit der sanften Stimme als Knuddelbär zwischen den Reichen und Schönen Münchens? So darf man sich das freilich nicht vorstellen, doch nach immerhin zwei Produktionen im Rahmenprogramm der hochmögenden Opernfestspiele ( Waltons „Der Bär“ kombiniert mit Poulencs „La voix humaine“ in einem Kino 2013 sowie die Uraufführung „Pinocchio“ 2015) findet Axel Ranisch, dass sie ihn hier unten gern haben und das er gut dahin passt. Ob sein warmherziger Humor also doch ein eher süddeutscher ist? „Hier lachen alle gerne, ich übrigens auch.“
Seither hat er zudem als gewichtiger Mainstream-Schauspieler in der Hallenser Regionalkrimireihe „Zorn“ weiter an einem seiner typisch nachgiebigen, doch in der Sache harten Charaktere gefeilt und eben auch noch schnell bei Ullstein einen Roman namens „Nackt über Berlin“ geschrieben, wo gleich zu Beginn zu Rachmaninow gerubbelt und ein süßer, aber abgründiger Vietnamese angehimmelt wird, wo also schon wieder Dicke, Schwule, Exoten und sportive Eltern im Plattenbau vorkommen. Sein ewiges Thema mit Variationen. Verfilmt werden soll das natürlich auch, aber vorher wird es im Herbst – in Halle – zum Theaterstück.
Daran ist Axel Ranisch ausnahmsweise mal nicht beteiligt, denn gegenwärtig inszeniert er wieder Oper in München, diesmal im Festspiele-Hauptprogramm. Die zweite Premiere der Saison im Prinzregententheater hat man ihm anvertraut, für gewöhnlich eine Rarität, diesmal ist es Joseph Haydns Dramma eroicomico „Orlando paladino“, komponiert 1782. Mit Zauberern und Feen, vielen Verliebten und Verrückten. Also in seinen durcheinanderpurzelnden Gefühlen und seiner klapprigen Szenenfolge hoffentlich genau richtig.
Und während Ranisch – er steckt das feinsinnig lächelnd weg – gerade wieder von einer verstörten Fernsehnation unheimlich gedisst wurde für seinen zweiten rheinischen Lena-Odenthal-„Tatort“ ohne Drehbuch, mit Laien und in breitestem Pfälzisch gebabbelt, läuft an der Isar alles streng nach Plan, Libretto und Inszenierungsbuch. Schließlich hat er sich für die wüste Rittergeschichte nach Ariosts im barocken Musiktheater beliebten „Orlando furioso“ eine für nicht wirklich überraschende Rahmenhandlung ausgedacht. Schauplatz ist ein Kino, betrieben von seinem Lieblingsschauspieler Heiko Pinkowski, mit dem er bereits die Produktionsfirma „Sehr gute Filme“ gegründet hat.
Und da ereignet sich dann die Geschichte von Angelica, Alcina und Medoro, von einem ebenfalls verliebten Dienerpaar und, ja!, vom ein klein wenig schwulen Orlando mal als schon gedrehter Stummfilm, mal, ja die „Purple Rose of Cairo“ blüht!, mit den echten Filmfiguren vor der Leinwand: „Denn der Haydn schreibt schon komisches Zeug, mal strahlend schön aber auch mit sehr seltsamen Musikmomenten. Jedenfalls habe ich da viel Freiheiten, und je mehr ich das in den Proben höre, desto stärker gewinne ich alle Figuren unfassbar lieb!“
Die heftig beklatschte Premiere zeigte das, dazu lieferte das so kräftig wie lustvoll vom an der Bayerischen Staatsoper immerwährenden Ivor Bolton gedrillte Münchner Kammerorchester einen beweglich-sinnlichen Haydn-Sound. Auch Ranisch kann dem wechselhaftguten Werk, wo sich geniale Arien mit viel Dutzendbackware abwechseln, keine Repertoirefähigkeit abgewinnen. Aber er fabriziert da im erst heranwachsenden, durch das Opernkampfgetümmel zunehmend verwüsteten Kinoraum, dann auf der quasi immer mehr die Bühne einnehmenden, dreidimensional werdenden Leinwand ein im Augenblick höchst vergnügliches Kuddelmuddel ohne viel Konsequenz, in dem sich seine Singakteure traumsicher und keck bewegen.
Allen voran das knuffelige Dienerpaar Eurilla (Elena Sancho Pereg) und Pasquale (Dabid Portillo), die naturgemäß etwas langweiligen Liebenden in Renaissanceweiß Angelica (Adela Zaharia) und Medoro (Dovlet Nurgeldiyev). Der eher gleichgeschlechtlich liebende Kinobetreiber (Pinkowski) tröstet sich mit Ritter Rodmonote (fesch: Edwin Crosley-Mercer) dem Idol seiner feuschten Träume, dessen an der Kasse sitzende Frau (Gabi Herz) fand schon vorher Erfüllung beim Hausmeister (Guy den Mey). Und Tochter Alcina (Tara Erraugh), die sich so durchs Stück zaubert, knüpft dann doch noch zum dauerverrückten, die Waffe reckenden Orlando (toll: Matthias Vidal) ein zartes Band. Und doch wird auch hier nach vielen Pfeilen und noch mehr Genderwahn mit einem ziemlich zwittrigen, aber kräftig basssingenden Caronte (François Lis) zum Happy End einfach abgeblend’.
„Meine immer ausschweifende Phantasie hat in der Oper Freiheit, weil oft nicht viel passiert während der himmlischsten Musik, aber eben auch Ordnung, weil vieles sogar zeitlich wie in einem Korsett durch die Partitur festgelegt ist. Eine perfekte Mischung“, findet Axel Ranisch, der sich durchaus als Missionar versteht und mit seiner Begeisterung auch andere entzünden will. So wie es das eben auch bei einer weiteren Unternehmung tut, bei „Klassik drastisch – Lippenbekenntnisse zweier Nerds“, im Deutschlandfunk Kultur an der Seite von Devid Striesow. Von dem wussten man eigentlich auch nicht, dass er gern Beethoven und Tschaikowsky, Prokofiev und Berlioz inhaliert. Da fachsimpeln und albern die beiden also dann sehr possierlich über ein Lieblingsstück, von denen es viele gibt. Zwölf haben sie für die erste Staffel besprochen, immer fünf Minuten lang. Eine zweite Folge ist schon bestellt.
Und mit Oper, dazwischen sollen irgendwie auch noch kürzer geplante Film verwirklich werden, geht es, obwohl er in seinen Fiktionen gerne Charaktere quält, um nicht nur gute Laune aus ihnen herauszuholen, vornehmlich heiter weiter – „die wussten damals in München gar nicht, was für offene Türen die da bei mir einrannten“. Zwar inszeniert Axel Ranisch gerade an der Isar, aber im Kopf ist er mitunter auch schon im Stuttgart. Dorthin hat ihn nämlich gleich Viktor Schoner, der im Herbst vom Münchner Betriebsbüro auf den württembergischen Intendantensessel wechselt, als Wunderwaffe mitgenommen. Prokofiews lärmig-knallige Commedia-dell’Arte-Paraphrase „Die Liebe zu den drei Orangen“ wird es dort sein. „Ein noch engeres Korsett“, stöhnt Ranisch, „da muss ich so viel Action und Personen in nur 100 Minuten unterbringen“. Er wird das komische Opernkind schon schaukeln.
Wie übrigens alles begann? „1990 hat mein Vater aus Tschechien uns einen Ghettoblaster inclusive 20 Klassik-CDs mitgebracht – und der Sechsjährige war begeistert. Ich stand dann voll auf Konzerte, meine erste Oper folgte dann mit 13: an der Wiener Volksoper Donizettis ,Liebestrank’. Dann war auch ich verzaubert.“ Seiter möchte er freilich vor allem abseitige Opern inszenieren, vor den bekannteren und perfekten hat er zu viel Respekt. „Und besser kein Wagner, denn ,Tannhäuser’, ,Lohengrin’ oder ,Parsifal’ finde ich vor allem zum Lachen.“ Aber liebend gern einen schönen orientalischen Kitsch wie glöckchenarienklingelnde „Lakmé“, nur „schade, dass Joan Sutherland dafür nicht mehr zur Verfügung steht“. Ach ja, und so einen losen Plan für „Händel und Gretel“ gibt es, mit Jochen Kowalski als Hexe hat bereits ein paar Filmclips gedreht.
„Ich habe bei jeder Szene eine bestimmte Musik im Kopf, ich bin ein auditiver Mensch. Film ist Rhythmus für mich, in der Oper liegt das sehr nahe“, meint Axel Ranisch zum Schluss der Gespräches, bei dem erstaunlich viel Lachen auf dem Band zurückbleibt. Für Opern ist er inzwischen ausgebucht, muss vieles absagen. Und auch die Berliner Opernhäuser können sich jetzt erstmal hinten anstellen.
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