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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Davos Festival I: Hier zelebriert man ziemlich aktiv „Heute Ruhetag“

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Auch in Davos muss man die Augen fest auf die wie stets grandiosen Berge richten, denn im Tal gibt es, wie leider allzu oft in der Schweiz, zwischen schwindendem historischen Baubestand zu viel geballte Betonscheußlichkeit. Doch ich bin nicht auf 1560 Graubündner Höhenmeter, um über den eidgenössischen Architekturzustand zu lamentieren, sondern um auf meiner helvetischen Sommerfestivaltour die Nummer Zwei von Vier zu erreichen: das Davos Festival. 1986 von Michael Haefliger gegründet, der längst nach Luzern weitergezogen ist. Davos gibt sich klein, fein, auf junge Künstler konzentriert, mit individuell entworfenen Programmen, ohne große Namen, aber mit spitzfindig-witzigen Motti. Hier schwärmt man aus zu schrägen Locations, auf die Berge und Almen, Triften und Sättel. Immer mit dem Singbuch im Rucksack und dem nimmermüden Chor neben sich. Und vor allem natürlich auch in die Sanatorien, für die der Luftkurort einst in ganz Europa berühmt war. So wie man hier von Lungenkrankheiten auf Allergien umgestellt hat (es gibt keine Hausstaubmilben, aber Stechmücken), so wechselten auch die Festivalleiter. Im fünften und letzten Jahr hat sich der auch international bekannte Klarinettist Reto Bieri das Thema „Heute Ruhetag“ verordnet. Das kann Entschleunigung bedeuten, aber auch Schläfrigkeit, wohlverdiente Entspannung oder totaler Stillstand. Oder gleich tot – eine gewisse Morbidezza ist in Davos immer noch zu spüren.

Der Bus München-Milano spuckt mich in Chur aus, die Rhätische Bahn windet sich durch das schon mal vielversprechende Landwassertal in den Prättigau hoch. Nach einem letzten Umsteigen in Klosters schnauft der Zug Davos Dorf entgegen. Erst mal auffällig: die vielen orthodoxen Juden, die unterwegs zusteigen, angetan mit den üblich schwarzen Hüten, Schläfenlocken und Mänteln, bzw. Kapotthütchen, Perücken und blickdichten Stümpfen. Aber eben auch mit Treckingstöcken, Rucksäcken, Teilen von Freizeitfunktionskleidung. Sehr viele, sehr kinderreiche Familien. Später werde ich aufgeklärt: Die wohnen in ein paar Hotels, sind nur einige Tage da, und Davos (wie auch St. Moritz-Bad) fungiert vor allem als Heiratsmarkt. In den Konzerten sieht man sie nicht, Thomas Manns Leo Naphta aber wäre bestimmt aufgetaucht.

Schon weil ich mich bald zur Schatzalp aufmache, fünf Minuten bequeme Zahnradbahnfahrt. Das ehemalige Sanatorium, in dem auch Katja Mann kurte und das Thomas Mann für den „Zauberberg“ inspirierte, seit den Fünfzigerjahren Hotel, ist heute Schauplatz des Hauptkonzerts. „Guten Abend, gut’ Nacht“ verheißt es mit Brahms. Und es ist genau diese skurrile, überraschende, charmante Mischung aus Moderne und Repertoire, vorgetragen von enthusiastischen Jungen an einem heimeligen Ort, für die das Davos Festival steht und die jetzt gleich in Vollendung zu erleben ist. Mittags ging es noch zur „Molkekur mit Clara“ (Schumann) die hier wirklich weilte, in die Hochgebirgsklink. Am Abend vorher konnten man während Morton Feldmans fünfstündigen Streichquartett Nr. 2 in den „Ruhestand“ eintreten, umnebelt von späten, psychedelischen Bilderfantasien im Ernst-Ludwig-Kirchner-Museum. Der Maler entschwand hier in Davos der Wirklichkeit, er liegt auf dem Waldfriedhof gleich neben dem Kieswerk begraben.

Doch erst einmal schaue ich jetzt zwischen Kräutertöpfen auf der Schatzalp-Terrasse bei einem Küpli Champagner der Sonne vor dem vollendeten Panorama beim Untergehen zu. Wie einst der Verein Halbe Lunge, sitzen die bedeckten Konzertbesucher schon wie zur Liegekur im Sessel, harrend der Mozart-Serenade c-moll KV 388, die jetzt als Abendmusik open air erklingt. Wonniglich gluckern Klarinetten und Oboen, fast älpisch schluchzen die Hörner.

Das Wandelkonzert verlagert sich in den Saal, wie das ganze Hotel eine einzigartige Mischung aus Jugendstil und Marthaler, leicht abgewetzt und deshalb authentisch charmant. Erst ertönt „Guten Abend, gut’ Nacht“ von einer in einem Stofftier versteckten Spieluhr, dann wird es sopranfein gesungen. Der Schauspieler Tom Tafel, der dramatische Konzert-Cantus-Firmus des Festivals, erzählt von der geheimen Botschaft der Bertha Parupsky, später verheiratete Faber, die den liebesentflammten Johannes Brahms mit dem Jodler „S’is anderscht“ abschmetterte, worauf er sich bei der Kindsgeburt von Stammhalter Hans mit dem diese Melodie variierenden weltberühmten Wiegenlied revanchierte. Drei bezopfte Mädels im Dirndl singen das österreichische Liedl im Terzett, eine hat fein riechende Nelklein ausgeteilt, um uns auch olfaktorisch das Geheimnis der darin angesprochenen Näglein zu offenbaren.

 

Attacca geht das über in gebrochen schnaufende Akkorde. Stefanie Mirwald, die noch oft zu hören sein wird, Reto Bieri liebt dieses atmende Instrument einfach zu sehr, spielt am Akkordeon Salvatore Sciarrinos „Vagabonde blu“. Nach der Gutenachtgeschichte folgt die Nachtmusik, mit dreimal Werken von Dobrinka Tabakova. Die gefällig-minimalistisch tönende Bulgarin ist dieses Jahr Composer-in-Residence. Das wispert und lullt vom Viola-Duo über das zärtliche Nocturne, das die mit der Seilbahn verspätete Claire Huangci anschlägt, bis zur Fantasie Homage to Schubert, die die von Robin Ticciatis älterem Geigenbruder Hugo angeführte Davis Festival Camerata zu Gehör bringt. Längst ist die Bergkulisse vor den Panoramafenstern in samtiger Schwärze verschwunden, ein Männerquartett singt zwischen Tag und Dämmer eine weitere „Nachtmusik“ Schuberts. Die Rezeption ist verweist, der Concierge hat vermutlich Ruhepause, und rotleuchtend lockt rechts die Bar.

Die Festivalbesucher aber machen sich auf zur Talstation, wo es eine letzte Mitternachtsmusik gibt. Schuberts „Nacht und Träume“ verzaubern, wieder mit Akkordeon, das prosaische Kassafoyer. Mit einem murmelnd sich lautstteigernden Tamtam und James Tenneys Having Never Written A Note For Percussion verabschieden sich die Musikerfüllten und-Beglückten zu ihren jeweiligen Beherbergungsstätten. Doch man kann auf dem fesivaleigenen Radio Ruhe einiges nachhören, auch ein Interview mit der nur drei Tage hier entspannenden Patricia Kopatchinskaja, die als Artist-in-Ruhe eigentlich Ferien machen wollte, aber jäh in die Wirklichkeit zurückgerufen wurde.

Das Davos Festival ist gemütlich, es überfordert nicht. Man kann, ist das Frühstück übergegangen in das polyglotte „Offene Singen“ im Hotel-Living-Room, tagsüber den offenen Proben der kleinen Akademie (später wird hier noch Eberhard Feltz einen Quartett-Meisterkurs abhalten) beiwohnen oder einfach in die lockende Natur ausschwärmen. Und abends dann versammelt sich die treue, überschaubare Festivalfamilie zu einem neuen Überraschungskonzert. „Ich habe genug“, lautet es Bach-trotzig und ist in der Kirche St. Johann doch wieder sehr harmonisch.

Obwohl es erst swingend irritierend mit Orgelmusik von Jehan Alain (1911-40) startet, Tom Tafel liest dazu in Schwyzerdütsch Aufwiegelndes und Grollendes. Doch Joseph Haydns Streichquartett Es-Dur op. 76,6 beruhig dann gleich wieder, vor allem mit seiner sämig-meditativen Allegro-Fantasia als zweitem Satz. Das Quartet Berlin-Tokyo spielt das ideal ausbalanciert und mit großem Ton. Es folgen neuerlich  zwei Tabakova-Piècen in ähnlich wellness-strudelnder Machart, einmal für Bläserquintett und Streichquartett, einmal für Violine, Akkordeon und Kontrabass. Nichts zu mäkeln, doch Johann Sebastian Bachs „Ich habe genug“-Kantate, von dem schlanken Bass Jonas Atwood intoniert, ist dann das weit stimmigere Finale. „Ich freue ich auf meinen Tod“, jubiliert der zur wendigen Oboenbegleitung Philibert Perrines. Wir freuen uns nicht, aber der lässt hoffentlich noch ein wenig auf sich warten. In Ruhe.

Der Beitrag Davos Festival I: Hier zelebriert man ziemlich aktiv „Heute Ruhetag“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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