Wenn es dem Esel zu bunt ist, geht er aufs Eis – und das Musikfestival hoch hinaus in die Berge. Immer wieder gern als Eventhöhepunkt angeboten. Doch wenn die Musi sowieso schon auf 1560 Metern spielt, dann kann man die umliegenden Gipfel als durchaus angemessene Erweiterung des Konzertraumes betrachten. Zumal die klingende Wanderung beim Davos Festival organischer Programmbestandteil ist, gerade wenn das Motto „Heute Ruhetag“ lautet. „Über allen Gipfeln ist Ruh“ ist deshalb nach erfolgtem Bahnaufstieg der füßische Abstieg vom 2590 Meter hohen Jakobshorn überschrieben, nicht sehr originell, aber sehr passend. Unten werden Gesangsbücher ausgeben und es wird noch zweifelnd auf die Handys gestarrt, die angeblich eine Gewitterzelle direkt über den kahlen Gipfel orten. Durch die kronleuchterbehängte Talstation geht es zur Bahn. Zwei Fuhren sind nötig, um alle Teilnehmer und ein paar schnell verschwundene Mountain Biker via Mittelstation nach oben zu schaufeln. Da ballen sich wirklich Wolken von rechts, während auf den Gipfeln gegenüber die Sonne blitzt. Also, die Schweiz ist ja ein Hort der Zivilisation, gibt es erst einmal ein zweites Frühstück mit Schümlikaffe und Kipferli. Vorsorglich werden auch 110-Liter-Müllbeutel erworben, um die eines Regenschutzes Abholden adäquat auszustatten. Nicht notwendig: Ein paar Tröpfeli und alles ist vorbei. Regenbogen schlagen ihren Weg, hinten heitern sich Himmel und Gefühle auf. Alle steigern der Bergstation aufs Dach, mit Goethes Kickelhahn-Hymne und der Schubert-Vertonung starten wir in einen herrlichen Naturmusiktag.
Festivalchef Reto Bieri macht klamme Kehlen und Körper frei, man singt sich ein, klärt die Luft, für den folgenden Bass/Akkordeon-Vortrag des Schubert-Liedes, das vor dem grandiosen Hochgebirgspanorama auch die Seele weitet. Drei Stockwerke tiefer folgt (das Steinxylophon ist freilich in Reparatur) im dann doch geschützten Raum „Steinschlag“ von Matthias Steinauer. Keine Namenswitze! Das hat eine eher lakonische, monotone Anmutung, endet aber effektvoll mit einem fallenden Felsbrocken im Blecheimer. Alles tot hier oben, in der durch Schneekanonen, Bagger noch zusätzlich verwüsteten Region. Aber eben deshalb auch Ruh’, Ewigkeit. Der Berg, der bleibt.
Es geht abwärts, aber nur geographisch. Die Stimmung steigt, es wird wärmer. Die Steine weichen den Matten und den Blumen. Die Gruppe zieht sich auseinander, jeder findet sein Tempo, aber selten die Ruhe. Der Schweizer schwatzt halt gern…Auch die wechselnden Ausblicke unterhalten. Auf 2005 Meter präsentiert sich die Clavadeler Alp als Schaukäserei mit Erlebnisrestaurant, etwas ruppig geführt. Die Käsemaccheroni mit Apfelmuss im rustikalen Alpkeller schmecken eher nach fad nach Krankenhauskost. Die Musik aber erfreut und erheitert. „In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch“, ist auf der laminierten Tagesparole an dieser Station goethegemäß bemerkt; aus den Fenstern ist aber durchaus Windbewegung in der nahen Baumgrenze festzustellen.
Die versatile Akkordeonistin Stefanie Mirwald streicht zu den Fingerbewegungen in Klaus Hubers Winter Seeds zusätzlich mit Filtzfleckerln unter den Füßen über den Dielenboden. Draußen spielt im Halbkreis vor Bergkulissen, aber in Anzug und Krawatte das fünfköpfige Ensemble Ouranos Trois Istants fugitivs von Thierry Escaich, die sich gar nicht so schnell verflüchtigen. Und Reto Bieri lässt uns gerade an dieser Stelle über Holz und Winde nachsinnen. Woodwinds eben.
„Die Vögelein schweigen im Walde.“ Weiter geht der Fußweg nach Unten und ins Innere. Die Knie und Gelenke sind zu spüren, der morgige Muskelkater zu ahnen. Gleichzeitig wird die Sonne stärker, das Gemüt wohliger. Am Ende ist es dann doch etwas anstrengend, das kleine Kirchlein von Frauenkirch (auf 1505 Metern) vor Augen. Ein letztes gemeinsames Lied, dann geht es zum Endspurt über eine begrünten Kieshügel vom Kieswerk samt Kirchner auf dem hier platzierten Waldfriedhof zur Kirche. Am Friedhofseingang wird Schnaps ausgeschenkt, Appenzeller freilich, kein Bündner, wie gleich kantonseifersüchtig festgestellt wird.
„Warte nur! Balde / Ruhst Du auch.“ Mit Goethe in die ewige Stille, hier eher kontemplative Einkehr, unseren Anfang auf dem Berg vor Augen. Die Sonne streichelt das kleine Gotteshaus, noch einmal tönt „Wanderers Nachtlied II“, dann, zur durchaus gewollt in den Schlaf übergehenden Meditation, Claude Debussys eigentlich anders gedachte, aber sehr passende, weil schwebend-transzendente Sonate für Flöte, Viola und Harfe. Alle sind beglückt. Nur fröhliche Gesichter wenden sich Richtung Davos.
In den Hotels dürften die Wellness-Bereiche die müden Knochen und Muskeln mit Wasser und Wärme regenerieren, viel Zeit bleibt aber nicht, denn noch einmal ruft das Festival zur Einkehr – mit Schubert & Friends ins Wirtshaus, äh, die Pauluskirche. Draußen ist es jetzt doch feucht geworden, erstes Anzeichen des angekündigten Wetterumschwungs. Drinnen benetzt Wein die trockenen Kehlen. Man sitzt an Tischen, den Flügel mittendrin. Noch einmal, jetzt in der richtigen Sopran- und Klavierversion, verzaubert Wanders Nachtlied II sowie „Nacht und Träume“. Sie fungieren als Überleitung zu einem heiteren, aber überlangen Gespräch mit der 95-jährigen Festivalfreundin und Herzanästhesistin Ruth Gattiker.
Sehr schweizerisch dass, rau und lustig, als Gemütlichkeitstonfall von Johann Sebastian Bachs Kantatenarie „So oft ich meine Tabakspfeife“ unterbrochen. Mit Für Bonita Marcus von Morton Feldman soll der lange Tag bei diesem weltlichen Kirchenspiel überlang ausgleiten. Das misslingt: Als das auf Wiederholung und Langsamkeit setzende 70-Minuten-Klavierstück immer mehr zu Abschiedssinfonie für das sich leise davonstehlende, den Betten entgegeneilende Publikum wird, macht Claire Hunacgi nach 50 Minuten konsequenterweise Schluss. Aber die waren auch schön.
Der Beitrag Davos Festival II: eine Bergtonschau und eine unfreiwillige Abschiedssinfonie in der Kirche erschien zuerst auf Brugs Klassiker.