Heute machen wir wirklich Ruhetag beim heuer „Heute Ruhetag“ untertitelten Davos Festival. Das Wetter ist auch danach, die Wolken hängen tief, da drehe ich mich gern noch einmal im Bett herum. Das Frühstück versüßt mir neuerlich tönend mit steigender Teilnehmerzahl das Offene Singen. Dann gliedern Mini-Events, örtlich nicht weit voneinander entfernt die Musestunden. Schon im letzten Jahr („Spielplatz“ lautete damals das Motto), wurde neben dem Bubenbrunnen der kleinste Konzertsaal der Welt aufgebaut. Eine verglaste Box, 18 Quadratmeter, mit wellenartig ausgefräster Akustikholzrückwand, vom renommierten Ingenieur Karlheinz Müller entworfen. Darin ein Stutzflügel und ein Stuhl. Dieses Jahr heißt „den kleinsten Konzertsaal für das exklusivste Konzerterlebnis in der höchstgelegenen Stadt Europas“ Ruhebox, und statt Uraufführungen gibt es jeden Tag von 11 bis 12 Uhr auf Voranmeldung immer ausgebuchte akustische Sedativa, vorzugsweise vom nach wie vor viel zu wenig bekannten Spanier Frederic Mompou. Claire Huangci fungiert heute als „Klavier-Apothekerin“: Sie trillert sich warm, dann spielt sie nur für mich ein Stück aus der sanft dahinlullende Musica Callada. Ich sehe sie hinter ihrem Noten-IPad nicht, nur die sandalettenbewehrten Füße mit dem petrolfarbenen Nagellack. „Schöne Tönung“, sage ich am Ende. Sie errötet. Draußen schauen neugierig die Leute zu, manche versuchen doch noch einen dieser einzigartige Hörerplätze zu ergattern.
Nach ein wenig Nichtstun lockt das flaggenverzierte „Kaffee-Klatsch“ nicht nur mit verführerischen Himbeertartelets und giftgrünen Limonaden, sondern auch mit einer weiteren offenen Bühne zum Kaffee Konzert. Diesmal spielt Harfenistin Magdalena Hoffmann erfolgreich nicht nur gegen Tassengeklappern, sondern auch gegen die Knoblauch- und Thymianduftwolken aus der Pizzaküche an. Es ist voll, die Künstlerin beantwortet alle etwaigen Fragen nach Größe, Gewicht, Saitenzahl und Goldwert ihres Instruments im Voraus, verschweigt auch die peinlichen Zollbefragungen angesichts ihres rosa gummierten Stimmschlüssels nicht.Hinterher wollen erstaunlich viele Menschen die Harfe ausprobieren, sich mit ihr selfie-veredeln lassen.
Bevor dann um 17 Uhr der klingende „Zwischenhalt“ des Ensembles Ouranos am Bahnhof Davos Platz für ein Platzkonzert vor Bergfotokulisse zumindest den Schalterverkehr in der akustisch erstaunlich günstigen Halle vorwiegend zum Erliegen bringt, lasse ich mir vom enthusiastischen Festivalmacher Reto Bieri, der seit 2011 amtiert, noch ein paar Stellschrauben und Fußangeln des Intendantendaseins vor Ort erklären.
Die schwierigeren Stücke terminiert er immer in der zweiten Konzertwoche, „dann sind die Musiker und Ensembles miteinander eingespielt, dann ist es interpretatorisch ergiebiger“. Er ist ein Vollblutmusiker und Programmgestalter aus ganzem Herzen. „Halt auf Verlangen“, „Kreisverkehr“ oder „Familienzone“ nannte er seine so skurrilen wie originellen Programme an immer wieder überraschenden Orten, die der natürlichen wie kulturellen Topographie von Davos hinterherspüren. Dabei geht es um keine Starparade, sondern um die Begegnung unter meist 70 bis 80 jungen Interpreten, die hier gemeinsam leben und musizieren, die diese Botschaft verinnerlichen, in die Welt hinaustragen und wohlmöglich einmal selbst berühmt werden. Konzerte in Davos meiden herkömmliche Programmfolgen und Rituale, mischen das Repertoire zwischen alt und neu, von Hildegard von Bingen bis John Cage und Uraufführungen. 800.000 Franken Etat hat man, 15 Prozent kommen als Subvention von Kanton und Ort.
Das Davos Festival ist familiär, weil sich die gleichen Hörer und Interpreten immer wieder begegnen, im besten Fall austauschen. Das Musikmachen soll sich hier erneuern, zumindest auf den Prüfstand gestellt werden. Es hat eine treue Fangemeinde. Viel kommen zum Natur- wie Musikgenießen, für sie sind die späten Konzerte nach einem vollen Bergtag der ideale Rhythmus. Andere nehmen gern auch die offen Proben, die Aktivitäten unter Tag an. Das gemeinsame Singen ist ihm sehr wichtig: „Das öffnet die Leute“, für manche ist es die einzige soziale Begegnung am Tag“, danach nehmen sie auch viel leichter Neues in den Konzerten an.
Abends geht es in ins gemachte Musiktheaterbett, im Ballsaal des Hotel Schweizerhof ist die erste Opernuraufführung des Davos Festival angerichtet. Leo Dick hat Tim Krohns Erzählung „Aus dem Leben einer Matratze“ in ein „horizontales Musiktheater“ für vier Darsteller und drei Musiker, die aber auch agieren, verwandelt. Und so wie das Buch fasziniert vor allem die Idee, einen langlebigen Alltagsgegenstand zu verfolgen, auf dem geliebt und geruht, gestritten und geschlafen wird. Ein Hochzeitspaar macht seine Hotelmatratze blutig und kauft sie peinlich berührt gleich auf. Dann geht das gute Stück auf eine Odyssee durch die Zeiten und Länder, Demenzkranken, Juden und Hippies dient sie als Refugium, sie verlagert sich auf eine Berghütte, unter die Brücken Roms und aufs Mittelmeer. Schließlich wird sie zur Skulptur und verbrannt. Die Matratze als Metapher des Lebens.
Das ist witzig ausgedacht und originell minimalistisch umgesetzt, auch wenn sich manches nur aus der Inhaltsangabe erschließt. Das Publikum wird schon Foyer mit auf die Reihe genommen, im Saal lagert es auch auf einigen der gestreiften Rechtecke, von denen zehn mitspielen. Die Musik, sehr polystilistisch, oft nur fragmentaisch, ist ganz Teil der Performance, deren einzelne pyjamatragende Verursacher – Akteur, Sänger, Instrumentalist – dank vielen Zuspielungen kaum zu trennen sind. Nach 90 Minuten sind die Matratzen frei und fertig, wer wird sie wohl als nächster okkupieren und den Kreislauf neu starten?
So viel Schönes, Vielversprechendes könnte man noch beim Davos Festival besuchen, das Konzert „Heute wegen Tod geschlossen“, oder „Allerseelen“, das Leichenmahl zum Gedenken an besondere Kurgäste von Peter Tschaikowsky bis Alfred Einstein und Arthur Conan Doyle, bei dem sich die unermüdliche Stefanie Mirwald samt Tango-Akkordeon sogar im Schatzalp-Fahrstuhl vernehmen lässt. Das Musikmachen zwischen Waldfriedhof und Krematorium, die Waldesruhe und die Betriebsruhe, die Ruhe, die hin ist, und den echten Ruhetag – auch für die Mitwirkenden, alles muss ohne mich chillen und schunkeln. Dafür gibt es hier, anders als in Verbier, die Leckerli zum Abschied: Nussküchli, Birnenbrot und Salsiz-Wurst.
So ist der Davoser Ruhetag sogar noch auf den Geschmack gekommen. Reto Bieri aber übergibt das nicht vorhandene Intendantenszepter an den nächsten Schweizer: den Pianisten Oliver Schneyder. Auf ihn wartet ein schweres, aber schönes Erbe.
Der Beitrag Davos Festival III: in der Minikonzertbox, der Knoblauchwolke, der Matratzengruft erschien zuerst auf Brugs Klassiker.