Das Banale zuerst: Die Hitze ist weg, aber für Regen mag sich der Wettergott in Luzern noch nicht so recht entscheiden. Die Wolken hängen tief und schwarz, doch bis auf ein paar Tropfen bleibt es trocken. Also plumpse ich, wie nun seit auch schon wieder zwei Dezennien, kommod aus dem Bahnhof ins gar nicht angejahrte KKL zum Lucerne Festival. Links See und rechts die Musi unter Jean-Nouvel-Metalic-Almhüttendach, eine schöne innerschweizer Mischung. So kann mein dritter helvetischer Sommerfestivaltrip beginnen. Und hier platscht und wogt es auch gleich, aber ebenfalls wasserlos, es sind die Wellen des Applauses, die Riccardo Chailly und seinem Festivalorchester im zweiten Konzert entgegenschwappen. Das aber hat es auch in sich: ein All-Ravel-Programm, toll für die Klangkultur und die Virtuosität, aber schaffen allzu viele Lollipops nicht gleich wieder Überdruss?
Nicht wenn sie so lecker und intelligent serviert werden wie hier. Denn Chailly denkt für sein personell noch einmal verändertes, aber sofort spitzenmäßig klingendes Orchester die erste Programmhälfte vom Anfang wie vom Ende her. Auf die Valses nobles et sentimentales folgt – so wie es auch George Balanchine in seinem berühmten Ballett 1951 getan hat – attacca La Valse, jenes hellsichtige Tanzpoem, das kurz nach dem ersten Weltkrieg noch einmal die europäische Gesellschaft im Walzerdelirium untergehen lässt.
Bei Riccardo Chailly, ist das, so wie er auch seine Gestik jederzeit zu kontrollieren versteht, kein hysterisch überhitze Krawallstudie wie bei so vielen Kollegen, sondern ein breiter, elegischer Fluss, der umso konsequenter in die ausweglose Katastrophe mündet. Und die beginnenden Valses sind gar nicht sentimental, sondern dezent hingetupft, sie schwingen sanft und elegant aus, ohne Wiener Taktschlamperei, luxuriös glitzernd. Denn schon hier bläst sich Jacques Zoon, Ausnahmeflötensolist seit der ersten Stunde des wiedergeborenen Lucerne Festival Orchestra, inzwischen weißhaarig und mit Brille, so dezent wie strahlend mit seinem cremig weichen und doch bissfesten Ton traumsicher ins Klangzentrum. Selbst der andere Niederländer, Raymond Curfs, sonst felsenfest verlässlicher Bayerischer-Rundfunk-Pauker in der Orchestermitte, muss da zurücktreten. Aber Ravel und die Flöte, man hört es noch öfter an diesem Abend, das ist ja schon ein automatisch gesetztes Minifestival an sich. Hier zur höchsten Qualitätsstufe veredelt.
Er geht genauso toll weiter mit sechs Exzerpten aus dem kompletten „Daphnis et Chloë“-Ballett, auch ohne Tanz herrliche Studien in Orchestrierungskunst und Stimmungsfinesse. Aus der Dämmerung ins Sonnenlicht, von der verschwebenden Hirten-Bukolik in den ekstatisch beweglichen Stampftanz. Chailly lässt das natürlich fließen, ohne Überbetonung, klasse klingt es auch schon so. Die Musiker scheinen sich fast wohllüstern, auf jeden Fall sehr süchtig in ihrer eigenen Tonproduktion zu ergehen.
Schließlich der Bolero, trocken, leise lauernd, nie überspannt. Wunderbar sich in seiner zwingenden Simplizität aufbauend über den immer mehr werdenden, markanter zupfenden Pizzicato-Streichern, wo die Stabwechsel zwischen Flöte und Klarinette, Fagott und Saxophon, Trompete und Oboen wunderzart gelingen, das Tempo nie anzieht und trotzdem stringent voranschreitet. Schließlich Modulation, Tutti-Akkorde und schnell weggewischter, spukhafter Schluss – schade, dass dahinein schon der Applaus knallt. Ein exemplarischer Abend. So durchsichtig und tonsatt, strukturiert und füllig muss ein aufgeklärtes Orchester des 21. Jahrhunderts klingen.
Was dieses Programm aber nun mit „Kindheit“, dem Festival-Motto zu tun hat? Gut, Maurice Ravel hat sich stets eine juvenil-naive Attitüde bewahrt, um dahinter umso stärker seine eigentliche, rätselhafte Persönlichkeit zu verstecken. Aber führt das nicht schon viel zu weit? Und ist, wir sind jetzt schon beim Akademistenkonzert des nächsten Morgens, „Genesis“ nicht gar die Kindheit der Erde? Aber so abstrus wollen wir nun wirklich nicht um die Evolutionsgeschichtsecke denken müssen. Wir konstatieren einfach: Es geht nicht alles im Motto auf. Ist ja ok.
„Genesis“ war also die Vorgabe von Matthias Pintscher, zum 40. Geburtstag des von ihm nun auch schon seit fünf Jahren geleiteten Ensembles Intercontemporain einen Blumenstrauß von Komponisten für einen Jubiläumsklanggruß zu bündeln. Und den hat er nun mit den engagierten und versierten Mitgliedern der diesjährigen Lucerne Festival Academy einstudiert. Die nämlich wächst und gedeiht außerordentlich seit ihrer Gründung durch Pierre Boulez (der ja auch das Ensemble Intercontemporain initiiert hat). Im interessiert lauschenden Publikum des Luzernen Saals sitzen auch der vorbildlich genesende, vor allem trotz bleibender Abschmelze seiner barocken Formen zu seinem früheren Persönlichkeitsselbst gefunden habende Wolfgang Rihm samt Dieter Ammann, die wieder das Composer Seminar geleitet haben, bei dem über 200 Bewerbungen eingingen. Ein anderer Klangschöpfer saß hingen bei Ravel im Auditorium: Dieter Meier vom Schweizer Kultkonzeptduo Yello.
Lustig, die 61-Jährige Chaya Czernowin fungiert noch unter „einige der interessantesten jüngeren Komponisten unserer Zeit“; ist alles relativ, so wie auch diese Programmblatttitulatur. Jedenfalls durfte sie prominent den Anfang machen und die Reihe von natürlich sieben „Genesis“-Schöpfern anführen. Sie ist mit ihren signaturhaft suggestiven, wispernden Suspense-Klängen irgendwie auch das Einzige, was mit dem Auftauchen der Erde aus der Ursuppe in der Erinnerung haften bleibt. Vorgabe für alle übrigens: Nicht länger als zehn Minuten und es soll mit einem Es (werde Licht?) starten.
Der Kollegen-Rest lässt uns wieder mal vorwiegend beim Verfertigen von Geräuschen teilhaben, vom Staniolpapierknistern bis zum mit der Kreditkarte über Harfensaiten Ratschen, so wie es Marko Nikodijevic in seinem sehr ruhigen Stück über die Teilung von Himmel und Erde tut und wie es im Finale noch einmal Mark Andre für den siebten Ruhetag vorsieht, an dem es freilich erstaunlich knuspelig und rumpelig zugeht. Kann man nun die Erschaffung der Sterne in Anna Thorvaldsens „Illumine“ hören, wenn da ein Streicheroktett sanft zirpt und zuzelt? Stefano Gervasoni beschreibt das Werden der Landtiere und Menschen mit bedächtiger Klanggleichmut „Marinas y boscatges“ des Katalanen Joan Magrané Figuera bleibt als Belebung von Vögeln und Fischen nicht als wirklich spezifisch im Gedächtnis, und auch Franck Bedrossians „Vayehi erev vayehi boker“ tönt vor allem fad, obwohl hier das Land vom Wasser geschieden wird. Viel austauschbare Klangbastelei, ohne wirklichen Bezug zu ihrem Schöpfungskapitel scheint das Ergebnis. Dann doch lieber den alten Papa Haydn mit seinem revolutionären Cluster-Flash.
Draußen empfängt uns die Realität mit den ersten Straßensperrungen: Die Toten Hosen werden zum vermutlich doch nassen Wiesen-Open-Air erwartet. Und dann steht Luzern wirklich still.
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