In Luzern sind besonders die Festival-Wochenenden immer klangdichtgepackt. Und weil man sich auch Außergewöhnliches gönnt, muss manches langfristig vorprobiert werden. So wie die sicher sehr besondere Aufführung von Karlheinz Stockhausens musikalisch-gestischer Meditation Inori (Anbetung) aus dem Jahr 1974 am 2. September (später auch noch beim Musikfest Berlin und in Paris) mit der Academy, neuen Gebärdensolisten und Peter Eötvös am Pult, der das Stück als enger Stockhausen-Mitarbeiter seit der Entstehung eng begleitet hat. Der Bus zum Kulturzentrum Südpol, wo die Academy probt, ist bereits wieder voll mit den Musikern aus dem Pintscher-„Genesis“-Konzert, die haben echt einen taffen Probenplan. Ich spreche kurz mit dem immer noch voll Enthusiasmus über das Werk reflektierenden Eötvös, der es freilich geschafft in seinen Kompositionen ganz eigene Wege zu gehen und trotzdem immer noch eng dem Stockhausen-Corpus verbunden ist, von dem er nun einen gewichtigen Teil an jüngere Dirigenten weitergeben wird, so wie auch der Uraufführungstänzer Alain Louafi bereits eine neue Generation anlernt. Die Klangschalen stehen bereit, auf der Tanzplattform wird sich schon, der obligatorische deutsche Sicherheitscheck für die geländerlosen Treppen ist absolviert, mental für die Probe eingegroved. Stockhausen wäre dieses Jahr 90 Jahtre alt geworden, Keine Zeit, wie der hektische Hutmacher geht es zurück zum Hotel Wilder Mann zum Presseluch für und mit Kollegen; auch Wolfgang Rihm sucht hier den Austausch und – zum Glück – wieder den Schnaps.
Am Folgetag startet neuerlich der Erlebnistag des Lucerne Festival, wo das Thema Kindheit wirklich ernst und auseinandergenommen wird. Auch die Instrumental-Stars Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta (Artist étoile) sind mit dabei. Doch das dritte Konzert des Festival Orchestra ignoriert das Motto geflissentlich und klanglich grandios – denn die „Rienzi“-Ouvertüre mag man zwar als Richard-Wagner-Kinderei abtun, aber nicht mal als Jugendwerk mag sie mehr durchgehen. 29 Jahre war der Komponist bei der Uraufführung. Riccardo Chailly nimmt dem teutonisch marschmäßig losmarschierenden Stück freilich alle Schwere. Leichtfüßig trippelt und tänzelt das, die vorzüglichen Musiker halten sich lieber an das kontemplative Gebetsthema statt an die martialische Rhythmik.
Wuchtig gischtet hingegen die Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“, angriffslustig glitzert es im Blech, die Holzbläser schrillen, die Geigen, eben noch so sanftwellig, geben sich wuchtig scharf. Wie ausgetauscht wirkt das Orchester nach dem impressionistischen Ravel-Flirren in diesem deutschen, romantisch-spätromantischen Kontrastprogramm. Denn auf die Wagner-Appetizer folgt thematisch richtig Anton Bruckners 7. Sinfonie in Es-Dur, entstanden 1883 kurz nach dem Tod Wagners und diesem gewidmet. Vor allem das Ende des zweiten Satzes, wenn das sich wölbende Hauptthema ein letztes Mal monumental in den Wagnertuben wiederkehrt und zart verhaucht, gelingt mirakulös schön und ausbalanciert. Und umso greller wirbelt dann das Scherzo los, das in seiner Struktur wiederum der „Holländer-Motivik ähnelt.
Ja es gibt Fehler und Kiekser zu hören, zwei so anspruchsvolle Programme in nur einer Probenwoche zu polieren, das ist selbst für eine solche de-Luxe-Vereinigung (man schaue sich nur die Cellogruppe aus lauter Solisten an, die herrlich schwelgend, aber schlank in das Hauptthema des ersten Satzes einsteigt!) nicht gänzlich makellos zu bewältigen. Und vermutlich wurde der komplexere Ravel mehr geprobt. Aber was für eine Tonfülle, was für großmächtige Solisten- und Stimmgruppenleistungen. Riccardo Chailly kostet deren Möglichkeiten bis zum Maximum aus, ruhig, souverän taktierend. Sein Bruckner ist ein breiter, klarer Tonfluss, superweich, transparent. Das Ungestüme, Wilde, Gestaute, sich auch mal trotzig Entladende fehlt hier. Das ist klangbissfeiner Festival-Bruckner, trotz der Imperfektionen. Und das wird sich noch besser fügen, dafür ist ja schließlich im Oktober die Tournee an die Mailänder Scala und für fünf Konzerte nach Shanghai auch da. Und nicht nur, um vom Ruhm dieses Orchesters und seines Festivals in Fernost zu künden.
Die anschließende Party ist lustig, entspannt, nichts zu merken von angeblichen Stimmungseintrübungen zwischen den Musici und dem heuer sein 30-jähriges Luzerner Jubiläum feiernden Maestro, der jederzeit nahbar nach einem Dessert spechtet. Darüber wird sogar nebenan die Uraufführung „Rundum“ des Schlagzeugers und ebenfalls artiste étoile Fritz Hauser im Kreise seiner Krachmachkollegen ignoriert. Denn schließlich sind Festivals nicht nur für die Fülle von Events da, sondern auch für den Austausch untereinander. Auf dem Podium wie hinterher. Luzern – ein Ferienlager, irgendwie samt Kinder und Kegel für Akademisten wie Spitzenkräfte. Das ist er dann, der Lucerne Spirit. Schöner hätte man den 80. Jahrestag seiner Gründung mit dem Siegfried-Idyll unter Toscanini am Uraufführungsort im nahen Tribschen nicht feiern können. Möge das Festival bis zum 16. September so weiterlaufen.
Der Beitrag Lucerne Festival II: Sicherheitscheck auch ohne Geländer und Wagners Nicht-mehr-Jugendsünden in reifem Bruckner gespiegelt erschien zuerst auf Brugs Klassiker.