War es immer noch nicht genug? Der Dirigent Teodor Currentzis polarisiert wie gegenwärtig kein Klassikkünstler. Seine Tempi und Interpretationen werden ebenso diskutiert, wie sein selbstgemischtes Parfüm, seine Schnürsenkel, Hosen und Frisuren, sein sagenumwobenes Haus im Permer Sperrgebiet, sein Sexleben. Eben hat er in Salzburg alle Beethoven-Sinfonien hingefetzt, die Aufnahme steht bevor, erstmal nur auf Vinyl, wieder so ein Spleen. Mahlers Sechste soll in Kürze veröffentlich werden, Mitte September startet er in Stuttgart als erster Chefdirigent des fusionierten SWR Symphonieorchesters. Und jetzt steht der heiße Grieche aus der russischen Kälte wohlmöglich noch ganz anders im Mittelpunkt eines gar nicht musischen, aber nicht minder verrückten Projekts. „DAU“, von dem Film, der von Ilya Khrzhanovsky zwischen 2008 und 2011 unter sagenumwobenen Umständen in Russland gedreht wurde, war immer wieder in Interviews mit ihm die Rede, aber das war schon längst vergessen. Irgendso ein russisches Avantgarde-Zeug halt, hier eh nie zu sehen. Aber jetzt, wo das Ding der heiße Scheiß des Kunstherbsts werden soll, mit spektakulären „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“-Happenings in Berlin, Paris, London, samt Mauerbau, Millionenkosten aus dubiosen russischen Quellen und den üblichen Verdächtigen von Tom Tykwer über Marina Abramovic, Banksy und Peter Sellars, steht auch Teodor Currentzis einmal mehr im grellen Scheinwerferlicht.
Und es passt natürlich. Denn der russische, inzwischen in Berlin lebende Filmregisseur Ilya Khrzhanovsky ist mindestens genauso schräg, wohlmöglich wahnsinnig wie Currenztis. In „DAU“ spielt der den sowjetischen Physiker Lew Landau (1908-68), genialer Wissenschaftler wie Sexmaniak, der an der Wasserstoffbombe mitgearbeitet und 1962 den Nobelpreis bekommen hat. „Landau war anarchisch, er war ein Hippie im Geiste“, sagt Currentzis dazu. „Er hat versucht, eine radikale Welt zu ergründen, er war natürlich ein Atheist und dochglaubte er an einen Gott.
Das war ja alles während der Stalin-Zeit! In dem Film ging es um ein totalitäres System und wie es den Geist zerstören kann. Es war sehr spannend, sehr experimentell.“ „Er musste von einem echten Genie gespielt werden, unabhängig von der Disziplin“, sagte Khrzhanovsky über diese Besetzung. „Ich brauchte Leute, die Landaus Energielevel haben, ich brauche Genies, um Genies zu spielen. Und alle Genies sind Ausländer“, fuhr er kryptisch fort. Also genau das Richtige für den schrägen Theodor! „DAU“, das sind nun also 700 Stunden Film, gedreht wurde auf einem bewohnten, geschlossenen Set in der Ukraine.
Und jetzt wird es, nachdem es jahrelang immer nur als Gerücht durch die Kunstwelt nebelte, gaaanz groß aufgezogen. Die Berliner Festspiele als Veranstalter, 6,6 Millionen Euro Budget, vier Wochen zwischen 3. Oktober und 9. November. Dazu eine Mauer aus 900 Beton-Elementen, 3,20 Meter hoch, mitten am Boulevard Unter den Linden, 600.000 Quadratmeter umfassend als „narrativer Raum in der Größe eines Stadtviertels“. Um Staatsoper, Mathias Döpfners Kronprinzessinnenpalais, das Kronprinzenpalais (wo die geschnittenen Filme und Serien gezeigt werden sollen), Boulez Saal, Luxuswohnungen, Bertelsmann Stiftung, Friedrichswerdersche Kirche. Da darf man nur mit kostenpflichtigem Visum und ohne Handy rein.
Der Kunstbetrieb rotiert. Morgen müssen die Genehmigungen erteilt werden. Da mutet Currentzis’ Unterfangen, in Salzburg nächstes Jahr mit dem Freiburger Barockorchester (und vermutlich Peter Sellars) Mozarts „Idomeneo“ herauszubringen, 2021 wohlmöglich mit Romeo Castellucci „Tristan und Isolde“, geradezu harmlos an…
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