Den 90. Geburtstag von Karlheinz Stockhausen (am 22. August war er) begeht man sehr ausführlich beim Lucerne Festival, aber auch beim Musikfest Berlin. Mit einem besonderen Stück: INORI. „Die neue Funktion der Musik muss eine religiöse sein“, verkündete Stockhausen bereits in jungen Jahren. Doch erst in den Siebzigern, bestärkt durch die Begegnung mit Ostasien und dem Zen-Buddhismus, trat die geistlich-spirituelle Orientierung seines Schaffens deutlich zutage – und irritierte Stockhausens Avantgarde-Kollegen, die ganz auf die politische Dimension der Kunst fixiert waren. In INORI (der japanische Titel bedeutet „Gebet, Anrufung“) thronen zwei Tanzmimen hoch über dem 89-köpfigen Orchester auf einem Gerüst. Dort unterlegen sie die Musik mit Gebetsgesten, die Stockhausen verschiedenen Religionen entlehnte und für die er eine eigene Notation entwickelte. Diese ritualhaften Bewegungsabläufe werden jetzt erstmals zwei junge Tänzerpaare ausführen, angeleitet von Alain Louafi und Kathinka Pasveer, die eng mit Stockhausen zusammengearbeitet haben. Das Orchester der Lucerne Festival Academy dirigiert der nicht nur mit diesem Werk eng vertraute Peter Eötvös, der gleichzeitig auch jungen Dirigenten darin gecoacht hat. In Lucerne wird das heute gleich zweimal gezeigt, am 14. September ist die Produktion beim Pariser Festival d’Automne und am 18. in der Berliner Philharmonie zu erleben. Ich habe mit Peter Eötvös am Rande der Proben in Luzern gesprochen.
Sie waren Anfang der Siebzigerjahre als Assistent von Karlheinz Stockhausen unmittelbar an der Entstehung von INORI beteiligt. Wie haben Sie es damals empfunden?
Es war einerseits eines von vielen Stücken, ich war ja vierzig Jahre sein Mitarbeiter, von 1966 bis zu seinem Tod. Und anderseits immer etwas Besonderes. Allein schon mit dieser komplizierten dynamischen Skala, die 60 Grade umfasst. Das hat er mir beeits als Idee gezeigt. Dann begann auch schon die Arbeit mit Alain Louafi, der zum Glück auch jetzt noch einmal die neuen Mimen angeleitet hat. Wobei ich sage immer: Musiker. Die Rolle der beiden oben auf dem Podest, die die Gestik vollführen, das ist keine Choreografie und kein Tanz, das steht so in der Partitur, sie sind Teil davon. Und damit man auch erkennen kann, dass hier nicht improvisiert ist, hat Stockhausen diesen Part verdoppelt, so kann man sehen, dass beide absolut synchron agieren. Der Tanz hat hier die Funktion einer Sologeige. Die Mimen realisieren mit ihrer Gestik die Töne, die wir auch hören. Sie spielen mit. Die Synchronschaltung von Optik und Akustik ist das Prinzip dieses Stückes. Das ist einmalig. Deshalb kann man es auch nicht wiederholen, denn es ist ja schon da.
Hat Stockhausen es auch dabei belassen?
Diese Kopplung mit den Gebetsgesten, das ha er noch einmal variiert im Schluss des „Donnerstag aus Licht“, der ja Vision heißt. Das ist ein Terzett für Trompeter, Tenor und einen Mime. Das ist kammermusikalischer. In INORI ist es ja ein großes Orchester. Ich habe das in den Proben mit Alain wochenlang gesungen und dirigiert. Dann kam die Präsentation für Dr. Tomek, den Chef der Donaueschinger Musiktage, der das Stück ja bestellt hatte, und ein paar Gäste. Ich war als Zuschauer dabei. Alain lag auf dem Tisch in der Küche, und Karlheinz hat jetzt das Stück dirigiert und komplett durchgesungen. Das war eigentlich die schönste Aufführung. So intim. Es war wirklich eine Meditation. Denn so ist es gedacht. Ich sage den Musikern auch immer, sie sollen sich das als Gesang vorstellen, damit sich dieses Gefühl einstellt.
Wie haben Sie das Stück weiterbegleitet?
Ich habe es gespielt und ich habe jetzt schon den zweiten Dirigierkurs dafür veranstaltet, der erste war vor zwanzig Jahren in Holland bei meinem dortigen Orchester in Hilversum. Das gibt es von der Aufführung im Amsterdamer Concertgebouw auch auf Youtube. Ich habe aber inzwischen festgestellt, dass das Werk noch viel komplexer ist, als ich es damals vermittelt habe. Dem versuche ich jetzt gerecht zu werden. Man muss zum Beispiel in einem Takt zwei oder gar drei verschiedene Tempi schlagen. Dadurch nämlich entsteht eben jenes Atmen, das dieses Stück und seinem meditativen Gestus ausmacht. Ich verlange von den jungen Dirigenten, dass sie es für sich singen.
Wie reagieren junge Dirigenten darauf?
Total neugierig und offen, sie sind begeistert und sie entdecken, wie einzigartig Karlheinz Stockhausen eben auch heute immer noch ist. Sie kommen aus dem Baltikum, aus Amerika und Asien. Und sie können so viel. Das begeistert mich.
Gibt es an ihm und seiner Musik ein neues Interesse?
Ja und es ist das einer neuen Generation. Eine, die die Uraufführungen und ihre Ästhetik nicht mehr erlebt hat, die diese sehr besonderen Welt, diesen Kosmos nicht nur repetieren, sondern neu empfinden und für sich entdecken will. Wohlmöglich auch mit anderen ästhetischen Ergebnissen. Und deshalb ist es so wichtig, dass die erste Stockhausen-Generation jetzt loslässt, anders zulässt. Sie soll die jungen Leute informieren und sensibilisieren. Dann können diese sich erst aufmachen und Stockhausen neu denken. Stockhausen ist einzigartig. Er hatte keine Vorläufer und keine Nachfahren. Man muss einen ganz eigenen Zugang finden. Das gilt in besonderem Maße für INORI. Das ist wirklich ein Meisterwerk. Das wird mir bei jeder Annäherung bewusster. Eigentlich unfassbar für die damalige Zeit.
Lässt sich da etwas weiterentwicklen?
Gar nicht. Man kann es nur noch präziser ausführen. Es ist nicht kompliziert, aber komplex. Man braucht mindestens zwei Wochen, um es einzuüben. Für eine Opernpremiere sind sechs Wochen im Theaterbetrieb angesetzt. Karlheinz meinte, dann könne er sich doch hier mal 14 Tage gönnen. Der Aufbau mit dem Gerüst dauert zudem. Aber dafür sind ja Festivals da. Gerade wurde es sogar in einer kleinen Stadt in Italien gespielt. Keiner wusste davon. Ich würde gern gesehen, wie die verfahren sind. Aber sie haben es gemacht. Hier in Luzern haben wir jetzt vier neue Mimen angelernt, das war lange vorbereitet, schon durch die Stockhausen-Kurse in Kürten. Ein Jahr haben sie das mit Alain studiert. Das ist schön, dass er immer noch mit dabei ist, seit 40 Jahren.
Wie hat man das damals empfunden?
Das Publikum war beeindruckt. Aber was hier wirklich geschaffen wurde, dessen Dimension wurde man sich erst später bewusst. Denn der Anfang mit seinen Wiederholungen, Beethovens Fünfter nicht unähnlich, der macht durch seine Simplizität frei und empfangsbereit für das was folgt. Das finde ich auch das Positive an der Kirche, dass sie uns durch den Gottesdienst bereits macht, eine wie immer auch geartete Botschaft aufzunehmen. Im täglichen Leben haben wir das ja gar nicht mehr. Das wir runterfahren, uns leeren. Stockhausen aber ist überreligiös, er vereint hier die Gestik aller großen Religionen. Man müsste INORI mal in einer großen Museumshalle spielen, das würde ihm sicher noch mehr geben. Ich war ja zehn Jahre im Stockhausen Ensemble, da haben wir seine Werke meist in Nicht-Konzertsälen gespielt, das passte viel besser. Je größer, umso besser. Deswegen hat er ja mit Elektronik gearbeitet, um sich von einer vorhandenen Akustik unabhängig zu machen.
Konnten Sie sich unmittelbar nach der Uraufführung mit INORI weiterbeschäftigen?
Gar nicht, denn es ging ja gleich mit „Donnerstag aus Licht“ weiter, den ich an der Mailänder Scala uraufgeführt habe. Und da gab es ja auch wieder dieses tänzerische Element. Das war eine Folge, ein Ergebnis, dieselbe Linie wie INORI. Ich habe später am Mischpult eine reduzierte Vision für das Ensemble Intercontemporain auf Tournee begleitet, das war sehr wichtig. Später, als ich es dann dirigiert habe, saß dafür meist Karlheinz am Mischpult. Es war sehr frei und schön. Zwischen uns bestand eine sehr freundliche, offene Beziehung. Ich war der verrücke Ungar, der sich bei ihm beworben hat gleich am ersten Tag an der Hochschule. Er suchte nämlich Kopisten für Telemusik. Ich kannte seine Werke, das hat ihn beeindruckt und er hat mir vertraut. Ab der zweiten Oper ging dann freilich viel an mir vorbei, denn ich habe meine eigene Karriere verfolgt. Wir waren nicht mehr auf dem gleichen Bahnsteig, sondern auf parallelen Gleisen.
Haben Sie selbst mal etwas mit Tänzern probiert?
Einmal, vor zwei Jahren, haben vier italienischen Orchester ein Stück bei mir bestellt. „Alle vittime senza nome“, für die, die die Küste nicht erreicht haben. Heute leider aktueller denn je, wo das Humane sich zeigen müsste. Ich habe das ein tanzendes Requiem genannt, es liegt viel Bewegung herausfordernde Rhythmik darin. Jetzt habe ich die Aufnahme, die Antonio Pappano mit der Accademia Nazionale di Santa Cecila erstellt hat, Alain Louafi gegeben, und der fand das sehr zum Tanzen geeignet. So wie auch ein ungarischer Choreograf, der das jetzt umsetzen möchte. Ich finde gut, dass es jetzt getanzt wird, 25 Minuten, das kann sehr gut ein Stück eines Dreiteilers werden.
Der Beitrag Das Einmalige neuerfinden: Peter Eötvös gibt Stockhausens INORI in Luzern und Berlin weiter erschien zuerst auf Brugs Klassiker.