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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Salzburg-Ausklang: mit modernistischer Antike und sinnlichem Frühbarock, Stars und Stimmbesitzern

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Diese Musik packt  – und sie begeistert. Eigentlich. Es gibt nicht viele in den letzten fünfzig Jahren geschriebene Opernpartituren, von denen man das sagen kann. Hans Werner Henzes Antike-Opus „Die Bassariden“, das jetzt bei den Salzburger Festspielen, wo es vor fünf Jahrzehnten uraufgeführt worden ist, neuerlich und erstmals im originalen Libretto-Englisch von W. H. Auden und Chester Kallmann zu erlebten war, gehört eindeutig dazu. Freilich pulst hier bei aller barbarischen, abgefedert dodekaphonischen Härte auch das südliche Licht, unter dessen sinnlicher Sonne sich Henze wärmte. Und bei jedem Hören scheinen diese „Bassarids“ mehr als sein Opern-Opus summum, wo er meisterlich den Geist der Sinfonie aus einer antiken Tragödie gebar und in eine gekonnt ausbalancierte, einaktige Großform in vier eigenständigen Sätzen goss. Aber mehr noch: Dieses scheinbar so weltfern überzeitliche Werk, das sich auf Euripides’ „Bakchen“-Tragödie beruft, wirkt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltlage aufregend modern und eminent politisch. Ausgerechnet bei Herbert von Karajans Salzburger Klassik-de-Luxe-Festival wurde damals ein Diskurs über Anpassung und Freiheit, rigide Traditionsstrenge und Aufbruch, Askese und losgelassene Sinnlichkeit, über das Regime des Einzelnen und das Diktat der Masse vorweggenommen, der uns nach wie vor beschäftigen sollte.

Nur schade, dass man sich das jetzt bei den eben zu Ende gegangenen zweiten Salzburger Festspielen unter Markus Hinterhäusers, kluger, umsichtiger, nie auftrumpfend vorlauter Leitung vielfach dazu denken musste. Klar, auch ein Gott wie Dionysos, der Pentheus, den atheistischen König von Theben, ausschalten und von dessen eigener Mutter Agaue zerreißen lässt, ist hier nur Stellvertreter. Das wurde oft verdeckt durch ein von den Urhebern beschworenes, an Nietzsches Neuentdeckung der losgelassenen Griechenlust gemahnendes, aber fernes Fin-de-Siècle. Denn auch für einen Regisseur ist die Mischung aus Raserei und Diskurs, Bildungsballast und heutiger Vergegenwärtigung nicht einfach zu visualisieren.

Fotos: Salzburger Festspiele/Bernd Uhlig

In Salzburg haben der vielbeschäftigte Krzysztof Warlikowski und seine Dauerausstatterin Małgorzata Szczęśniak einmal mehr einen ihrer labyrinthischen, metallisch kühl gleißenden Multifunktionsräume auf die breite Bühne gestellt, die so unübersichtlich und noch breiter wirkt. Ganz rechts ist ein silbrige Treppe, die wie aus Eischollen gemacht scheint. Dann folgt ein Versammlungsraum, in dem sich vor allem der Chor singend produziert, in der Mitte liegt der Audienzsaal des Pentheus in Rot, mit sechs Säulchen unter einem Glühbirnenhimmel, wo vor einer bewegungslosen Masse das große Ritual lediglich von einer nackten Tänzerin exekutiert wird. Ganz rechts liegt schließlich ein Schlafzimmer im Fifties-Look. Darin ereignet sich viel keimfrei austauschbares S/M-Getue, mit redlichen Anspielungen auf Pasolinis de-Sade-Verfilmung „Die 120 Tage von Sodom“. Doch während darin vor allem Carl Orff gespielt wird, gibt es diesmal Henze zu hören.

Aus weiter Ferne freilich. Der Chor oft von ganz rechts (mit eigenem Dirigenten), in der Mitte die engagierten, schön klingenden Wiener Philharmoniker, rechts oben überlaut die massive Schlagwerkbatterie. So blieb bis fast zum Schluss, wenn dann auch noch Semele, die tote Mutter des Dionysos aus ihrem Heiligenschneewittchensarg aufs nun erkaltete Ehebett gesetzt wird, die überwältigende Wirkung aus. Obwohl Kent Nagano dieses wuchtig-sperrige, dann wieder sensualistisch aufrauschende Stück dirigierte, als sei es Johann Strauß: mit leichtem Herzen und leichter Hand, mit leuchtendem Klangempfinden und souverän gesteuerten Rhythmuswechseln.

Großartig und festspielwürdig besetzt die Sänger, sich zu einem abwechslungsreichen Typenkabinett fügend. Russell Brown mit seinem raumfüllenden, strikt auf den Notenpunkt gelenkten Bariton ist der Moralapostel und Gesetzesmacher Pentheus, der von Anfang an und selbst als Frau verkleidet auf verlorenem Posten steht gegenüber dem verführerischen Sean Panikkar als seinem tenoralen Gegenspieler Dionysos mit dem Platzvorteil der Jugend. Als trashige Tattergreise agieren Nikolai Shukoff (Teiresias) und im Rollstuhl Willard White (Kadmos). Tanja Ariane Baumgartner singt und spielt bannend mit gleißendem Mezzo die Agaue als eine zerstörte Ehefrau und Alexis-Carrington-harte Übermutter. Zusammen mit ihrer Schwester Autonoe (Vera-Lotte Böcker) und dem vokal gute Figur machenden Hauptmann/Adonis von Károly Szemerédy reißt sie die freilich nach Weill mit Mandoline klingende Farce des Kalliope-Intermezzos an sich.

Das beinhaltet musikalisch wirkungsvolle Minuten, hält aber doch auf und schweift ab. Der Theaterpraktiker Henze hatte es aus gutem Grund einst aus der gültigen Spielfassung entfernt. Genauso wie den später hinzugefügten, erklärenden Prolog. Wären die jetzt gestrichen worden hätte das in pausenlosen zwei Stunden durchrauschen Stück wohl weit mehr aufrüttelnde Wirkung gezeigt. Trotzdem klasse, dass sich Salzburg wieder mal mit dieser nicht nur 1966 zeitgemäß, aber vorsichtig den Bestand politischer Systeme in Frage stellenden Oper erinnert hat.

Bei den Premierenkritiken wurden Jan Lauwers’ tänzerisch kluge, nüchtern zurückhaltende, sich auf ein wunderfein zusammengestellten Vokalistenensemble verlassen könnende Inszenierung von Claudio Monteverdis „L’Incoronazione di Poppea“ vorwiegend rüde weggebürstet. Wieder mal die Unlust, sich auf eine andere, als die vertrauten Regiehandschriften einzulassen, noch dazu von einem berühmten, den Musikkritikern aber weitgehend unbekannten Tanzttheaterkrösus? Der jedenfalls wollte unbedingt und einzig dieses Werk auf die Musiktheaterbühne bringen.

Fotos: Salzburger Festspiele/Maarten Vanden Abeele

Denn noch keine 50 Jahre war die im humanistischen Florenz so manierlich gestartete Gattung Oper jung – und schon landete sie im sittenlockeren Venedig in der sündhaften Gosse. Und selten nur hat sie sich nach Monteverdis und Giovanni Francesco Busenellos 1643 uraufgeführter Antiken-Satire um die eben gar nicht so unschuldsvolle Hochzeit Poppea wieder zu einem ähnlich perfekten, ambivalent amoralischen, die Liebe als eiskaltes Machtwerkzeug in den zärtlichsten Tönen besingenden Meisterwerk aufgerafft. Und so verwundert es nicht, dass die es toll treibenden Römer, die Kaiserschlampe Nero, die von ihm später samt ungeborenem Kind totgetrampelte Hure Poppea, die auf Gattenmord sinnende Ex-Ehefrau Octavia und deren als Attentäter missbrauchte Liebhaber (und späterer Kaiser) Otho in der ersten Reihe der blühenden Barock-Renaissance stehen.

Die im innigsten (nicht von Monteverdi stammenden) Duett vollendete Krönung, trügerisches, doch feinfühliges Finale nach einem irrefahrenden Karussell aus Eifersucht, Betrug, eiskalter Ambition, Mordlust, Perversion, nun also, nach der opulenten Harncourt/Flimm-Darbringung 1993 im Großen Festspielhaus neuerlich, aber diesmal viel feiner, sensitiver, minimalistischer im Haus für Mozart. Herzstück der sinnlichen, auch in fast vier Stunden nie langweiligen Aufführung ist William Christie, der seine 15 weiteren, in zwei Gruben auf der Vorbühne versteckten Les-Arts-Florissants-Musiker wie eine vergrößerte Continuogruppe (ohne Blechbläser) vom Cembalo aus anleitet, aber eben nicht dirigiert. Ähnlich hatte er es schon 2010 in Madrid gehalten.

Jan Lauwers arbeitet also diesmal nicht mit der ihm vertrauten Needcompany, sondern mit dem eigens zusammengestellten Salzburger Bodhi Project & Sead. Diese spielen, tanzen, kämpfen, springen auf einem Bühnenboden, der eine Collage aus nackten Leiben aus Renaissance-Gemälden zeigt. Und auch sie offerieren viel nackte Haut, als eine Art sexuell aufgeladenen Hintergrund für die unerhörten Vorgänge vorn. Sie interagieren mit den mutigen Sängern oder ziehen eigenwillig ihre Kreise; abwechselnd dreht sich immer einer derwischgleich auf einem kleinen Podest um die eigene Achse – das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit wie das dräuende Schicksal symbolisierend.

Diese fast performative, eben nicht deutungsgeschlossene Aufführung ist sehr ruhig, puristisch, nach Salzburger Maßstäben ohne Glamour. Und entwickelt schnell eine ganz eigene Aura. Weil auch die Sänger sehr frei und autark wirken, in den schönen, aber wie zufällig gesampelten Kostümen als starke Individuen agieren. Das ist gefährlich, die Spannung könnte schnell nachlassen, wird aber wie von einem unsichtbaren Band zwischen Singenden, Spielenden, Tanzenden Musizierenden auf faszinierende Weise zusammengehalten.

Sonya Yoncheva kehrt erfolgreich als so berechnende wie großzügig Küsse verteilende Poppea mit zurückhaltendem, doch auch sich sinnlich aufschwingendem Sopran zu ihren barocken Anfängen in Christies Vokalakademie zurück. Nero erscheint bei der bezopften Kate Lindsey mit ihrem kühlen, metallischen Mezzo und im Goldanzug wie ein unreifes Kind, überwältig vom Sexvulkan Poppea. Glänzend, auch im fortgeschrittenen Alter, Dominique Visse in seiner Paraderolle als Poppeas pusselige wie eitle Amme Arnalta; ihm kontert gut Marcel Beekman als die Nutrice der Ottavia. Stéphanie d’Oustrac gibt die verstoßene Frau des Nero mit großer Allüre, am Ende verzweifelt im weißen Hosenanzug. Renato Dolcini ist ein ungewohnt junger, nicht basssatter, zweifelnder Seneca. Der Countertenor Carlo Vistoli singt den Ottone mit flammender Linie.

Wenn es in Salzburg zu Ende geht, wenn die letzten Vorstellungen schon fast wehmütig absolviert werden, weil danach diese so kostbaren Ensembles auf Zeit wieder auseinandergerissen werden und in alle Opernrichtugen der neuen Spielzeit fliegen, dann kommen hier endlich die Stars zum Zuge, in konzertanten Aufführungen mit wenig Probenzeit, aber maximaler Wirkung. So dürfen Dauergast Plácido Domingo und das dankbar die baritonal abgesunkene Tenorlegende feiernde Publikum sich an seiner 150. Rollen als „Perlenfischer“ Zurga erfreuen. Auch wenn hier eigentlich zwei jungen Männer um eine verflossene und aktuelle Geliebte ringen, egal. Javier Camarena gibt dem Nadir betörenden Tenorschmelz,  Aida Garifullina singt die Leïla mit ersten Schärfen wie feinen Trillern und sieht eher aus wie eine Porzellanprinzessin. Riccardo Minasi dirigiert sein Mozarteum Orchester mit zupackender Gestik und kompakten Tönen durch Bizets süffige Partitur.

Fotos: Salzburger Festspiele/Marco Borrelli

Noch mehr Jubel, aber weder Standing Ovations noch Encores gab es dann bei den „I due Voci“, als endlich noch Anna Netrebko mit einem Verdi/Puccini-Programm auftauchte, das viel weniger Zirkus war als befürchtet. Freilich ist sie ärgerlicherweise jenseits der Bühne offenbar nur noch im Doppelpack mit Gatten Yusif Eyvazov zu hören. Sie begeistert mit ihren fleischig satten Tönen, ihren mutig geschleuderten und getroffenen Höhen, ihren fraulich weichen Legatobögen, ihrer distinguierten Gestaltungskraft. Diese Stimme ist einzigartig – seine nicht. Er produziert nur Tenortöne, laut, sicher, langweilig. Doch Netrebkos Lady Macbeth und die Verdi-Leonoren, die Butterfly und Tosca, die hat man noch lange gern im Ohr.

Drei sehr gelungenen Premieren, „Salome“, „Poppea“, „Pique Dame“ und der witzsprühenden Bartoli-Wiederaufnahme mit der „Italienerin in Algier“ stehen die ordentlichen „Bassarids“ und die missratene „Zauberflöte“ gegenüber. Keine schlechte Bilanz. 2017 war in Salzburg ein gutes Opernjahr. Also auf ein Neues 2018, dem Vernehmen nach mit Mozarts „Idomeneo“ mit dem bewährten Team Teodor Curentzis/Peter Sellars; Verdis „Simon Boccanegra“ (bitte nicht mehr mit Domingo!!), den Valery Gergiev offenbar im terminlichen zwei-Wochen-Loch zwischen Bayreuther „Tannhäuser“-Vorstellungen schultern will; mit Enescus „Oedipe“ als pädagogische Übung im Erlernen des 20. Jahrhundert-Repertoires; und mit Barrie Koskys „Orpheus in der Unterwelt“ als hoffentlich kreischkomischer Witzbombe zu dessen 200. Geburtstag.

Der Beitrag Salzburg-Ausklang: mit modernistischer Antike und sinnlichem Frühbarock, Stars und Stimmbesitzern erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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