Das Gstaad Festival – das war mal die Vision eines Mannes, Yehudi Menuhin, und es kam – genauso wie er – in die Jahre. Der Neuanfang 1996 mit Gidon Kremer war ehrenwert, konnte aber nicht funktionieren. Das altruistische, kompakte Lockenhaus ist nicht die reiche, starverwöhnte Innerschweiz. 1999 starb Mehuin, seine Getreuen verwalteten weiter und übergaben 2002 an Christoph Müller. Der gelernte Cellist sammelt Firmen und Festivals wie andere Laufabzeichen, aber sie fügen sich zu einem schlüssigen regionalen Kosmos, vom Kammerorchester Basel über Konzerte in Rheinfelden, das gemeinsame Solsberg Festivals mit seiner Ex-Lebensgefährtin Sol Gabetta und eben, wie ein feiner, etwas fernerer Ableger, das Gstaad Menuhin Festival. Das Zürcher Kammerorchester ist hier sowieso seit Menuhins Zeiten gesetzt; praktisch, dass ihm inzwischen der Geiger Daniel Hope – der Sohn der langjährigen Menuhin-Assistentin Eleanor Hope – vorsteht, der hier viele Kindheitssommer verbracht hat. Müller ist pragmatisch genug, zu akzeptieren, dass die sieben Großkonzerte im an die Gstaader Tennishalle angedockten Zelt, das man Ende der Achtziger von einem etwas windigen Opernfestival namens Alpen Gala geerbt hatte, die kleineren, edleren Konzerte in den alten, schön freskierten Dorfkirchen des Saanenlands mitfinanzieren. Und er hat trotzdem den Ehrgeiz, sie auch zu integrieren, nicht nur an Glamour und Starnamen zu verraten. So wie es ihm gelungen ist, in Menuhins pädagogischem Geiste und nach seinen lokalen Initiativen, mehrere Akademie-Projekte aufzuziehen. Da gibt es seit 2009 die Gesangsklasse von Silvana Bazzoni Bartoli, bei der bisweilen auch deren Tochter Cecila vorbeischaute, 2010 wurde das Festival Orchestra aus Mitgliedern der großen Schweizer Orchester rekrutiert. Zwei Jahre später kam die Piano Academy mit András Schiff dazu, 2013 die String Academy und die Baroque Academy mit dem enthusiastisch seinen pädagogischen Erols auslebenden Blockflötisten Maurice Steger. Seit 2014 gibt es die Dirigentenakademie, zunächst von Neeme Järvi geleitet, seit 2017 steht ihr Jaap van Zweden vor – wie auch dem inzwischen auf Tour gehenden Orchester. Da wird zusammengefaltet und auch wieder aufgebaut, schön über das Festival sind die Akademien verteilt. Und als Wunschtraum gibt es immer noch den gleich beim Bahnhof platzierten Mehrzweckkonzertsaal Les Arts. Der hat eine Webseite, auch solvente Privatsponsoren gibt es. 2023 könnte er Wirklichkeit werden, aber Finanzierungshürden für den laufenden Betrieb wie natürlich die Volksbefragung sind noch zu nehmen…
Maurice Steger hat sich diesen Sommer auch die Gambistin Hille Perl mit Schülerinnen ins Hotel Ermitage geholt. Im Kellersalon wird zwischen zwei schön verzierten Cembali und den ausgebreiteten Flöten hingebungsvoll geübt und angeleitet, selbst das Brummen der Maschine, wenn sich Steger schnell entschuldigend einen Espresso zieht, stört niemanden. Nebenan, im Hotelshop, steht ebenfalls ein Cembalo und tirilieren die Blockflöten. Überall begeisterte Zuhörer davor, während es hin zu den zehn Saunen und dem Solebad geht. Nachmittags, beim Dankeschön-Konzert für die Hotelgäste, ist der Saal übervoll.
Gut besucht ist auch das Gemeidehaus von Gstaad, wo sich Silvana Bazzoni Bartoli mit ihrer Gesangsklasse präsentiert. Sehr jung sind die meisten Teilnehmer, eine gar erst 19 Jahre alt. Ein brasilianischer Bassbariton, ganz erkennbar ihr Liebling, bringt im Instrumentalteil von „Rocho Tango“ der Lehrerin rosa Rosen, die busselt hinterher alle ab. Familiär geht es hier zu, wenn auch natürlich mit harten Vokalbandagen gekämpft, jeder im besten Licht klingen und exzellieren will.
So wie abends dann auch beim sechsten Großkonzert im Zelt. Kein Wunder, echte Vokalstars haben sich in Gstaad angesagt: Olga Peretyatko (scheidungsbeding wieder ohne Mariotti-Zusatz) und Juan Diego Flórez. Da freut sich die französische Großsponsorin („il doit être préstigeueux“, laut ihr Geldverteilmotto), die vor dem Konzert neben dem Alpenkavier- und dem Champagnerstand ihre Gäste in die eigene Lounge lädt und hinterher zum Dinner chauffieren lässt. Aber auch sonst wird hier ordentlich konsumiert und geklotzt, der Foyerbereich mit seinem Schmuckvitrinen und Uhrenkisten ähnelt eher eine Messe mit Boxenstopp.
Doch innen, die Akustik ist passabel, gilt es der Kunst. Auch die Stars müssen sich Müllers Motto beugen: „Le Alpi nell’Opera Italiana“ heißt der eigens zusammmengestellte Abend gemäß dem – echt, erst jetzt? – ausgegebenen Gstaad-Thema „Die Alpen“. Und zumindest im Hauptteil hält man sich auch brav vokal daran, mit Ausschnitten aus Donizettis „Linda di Chamounix“, Bellinis „La Sonnambula“ (Flórez hat das zweite Duett durch die Elvino-Arie ersetzt, sonst wäre er im ersten Teil sololos gewesen) und Rossinis „Guillaume Tell“. Verdi fehlt ganz, obwohl dafür zumindest die nach Tirol verlegte „Luisa Miller“,weniger der vokal zu schwere „Stiffelio“ zu nennen sind. Auch Catalanis „La Wally“ wäre zumindest für die Peretyatko in Betracht gekommen, die bei den Spitzentönen ein wenig schummelt, aber bella figura in Koralloptik und später Schwarzblau macht sowie mit versatilen Verzierungen prunkt.
Flórez, der sein zwei infolge eines Fußballunfalls eingegipsten Finger der linken Hand wie ein Siegeszeichen hebt (an gleicher Stelle sang auch Jonas Kaufmann fußballblessiert mit kaputtem Zeh den Siegmund) verzichtet ungewöhnlicherweise auf seine Markenzeichen-Hohen-Cs in der ebenfalls in Tirol angesiedelten „Fille du Régiment“. Doch dafür gibt es als Zugaben Ausflüge zum „Barbier von Sevilla“ und – inklusive Rosenshow und zerpflückter Blumendeko – nach Granada sowie duettierend nach „Parigi, o cara“. Aber hatte sich ja schon das wertige La Scintilla Orchester unter dem ehrgeizig Akzente setzenden Riccardo Minasi gar nicht an das Motto gehalten und „Norma“, nochmals den „Barbiere“, „L’assedio di Calais“ sowie den in Peru (Anden!) speilenden „Alzira“ ouvertürenmäßig eingemeindet. Für die „Tell“-Ouvertüre hätte es weitere Instrumente gebraucht. Wenigsten waren extra bunte Alpenkulissen vor die sonst nüchtern holzigen Akustikwände gestellt worden. Schön war’s und préstigieux sowieso.
Der Beitrag Gstaad Festival II: Gegipste Tenorfinger und die Blockflöte im Hotelladen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.