Auf das Rotterdam Philhamonic Orchestra folgt das Royal Concertgebouw Orchestra, beide mit Bruckner-Sinfonien, das hat man selbst in Amsterdam nicht alle Tage, aber die Tourneeplanung und die Durchgangsstation Musikfest Berlin machten es möglich. Bei beiden Klangkörpern herrscht gerade Endzeitstimmung, aber nur temporär. Denn die beiden Spitzenorchester der Niederlande stehen vor Chefwechseln. Bei den Rotterdamer geplant und harmonisch, der einstige Hoffnungsträger Yannick Nézet-Séguin zieht sich als souveräner Weltklasse-Taktierer nach zehn Jahren auf den Ehrenposten zurück, macht dem auch Klavier und Kontrabass spielenden Multitalent Lahav Shani Platz – und steht doch schon im März wieder am Pult. So gut ist weiterhin die Verbindung, auch wenn sich der Frankokanadier jetzt auf seine transatlantischen Posten in Philadelphia und an der Met konzentrieren möchte. Bei den Amsterdamern hingegen herrscht die große Leere: dort hat man Anfang August den wegen amerikanischer #MeToo-Anschuldigungen ins Gerede gekommenen Chef Daniele Gatti, der in seine dritte Saison starten sollte, wegen angeblicher „ungebührlicher Vorfälle“ fristlos gekündigt und für den Saisonanfang mit einem Bündel anderer Dirigenten ersetzt. Nix Genaueres weiß man nicht, alle haben einen Maulkorb um, das Management mauert. Institutionen wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Berliner Philharmoniker und die Bayreuther Festspiele (letztere jeweils zudem mit einer Frau an der Spitze), die alle gültige Verträge mit Gatti haben, wissen noch nicht, wie sie sich verhalten sollen. Denn auch von einer angekündigten Klage Gattis hat man nicht mehr vernommen.
Im Saal ging es allerdings nur um Musik. Yannick Nézet-Séguin in körperbetont Schwarz, aber mit roten Schuhsohlen, hatte extra für den Bernd-Alois-Zimmermann-Schwerpunkt des Berliner Orchestertreffens dessen frühe Sinfonie in einem Satz an den Anfang gestellt. In der verworfene Orgelfassung. Und da knattert und knallt es gleich apokalyptisch, aber geordnet voll los. Schön und kräftig wird der Tonstrom modelliert, durchaus als noch einigermaßen manierliche Auseinandersetzung mit kirchlichen Elementen und Riten kann man dieses Jugendopus eines rheinischen Katholiken verstehen, der später freilich weit komplexer wurde. Muskelzeigender Schlagabtausch eben, abwechslungsreich und dicht in seiner 20-minütigen Klanggewitterkürze.
Durchaus passend gab es danach Anton Bruckners 4. Sinfonie, der Nézet-Séguin einer neugierig erzählerische Note gab. Da wurde nicht souverän ausgebreitet, sondern melodiös und sehnsuchtsvoll schön einer ganzen Palette an klar aufgefächerten Farben nachgespürt. Auch weil die Kontrabässe hinten platziert waren, die Pauke mittig rechts, die ersten und zweiten Streicher an den Außenseiten, amphitheatralischer Hörgenuss pur. Das hatte etwas Sängerisch-Belcantistisches, ein ungewohnter, auch juvenil strahlender Bruckner war das, besonders fein in den ersten zwei Sätzen in dieser legato-innigen Manier exekutiert. In der Folge zerfiel es ein wenig in stimmige Einzelmomente. Doch der Klangbeweis war schlagend: Yannick Nézet-Séguin und das Orchester sind bestens gewachsen. Wo einst Valery Gergiev Kraft und Opulenz kultiviert hatte, ist jetzt noch Eleganz, Klarheit und ein sicheres Strukturbewusstsein hinzugekommen. Die Rotterdamer, gerade 100 Jahre alt geworden, sind gegenwärtig erste Klasse.
Und hinterher wurde es richtig emotional, mit Tränen und Umarmungen für jeden einzelnen Musiker. Schließlich war dieser Berliner Abend nicht nur der erste Auftritt des Rotterdams Philharmonisch Orkest in der Philharmonie seit 1996, sondern auch der allerletzte von Nézet-Séguin als Chef. Da durfte es ruhig nass werden.
Zwei Tage später war aber schon wieder alles trockengewischt und die Emotion verflogen – das Koninklijk Concertgebouworchest hatte seinen ebenfalls legitimen Berliner Platz eingenommen, nur fehlten da Berliner. So wie auch schon bei den Rotterdamern war es längst nicht voll, inzwischen ein Grundproblem des Musikfest. Dabei sind die Preise moderat, die Gäste bedeutend, die Programme ansprechend und auch sonst ist die Saison frisch und noch längst nicht auf Touren. Entschuldigungen gibt es eigentlich nicht, oder sind die die in ihrem eigenen Sieben-Orchester-Mußtopf gärenden Berliner wirklich so bräsig und bequem, dass sie nicht mehr vergleichen wollen?
Die Amsterdamer, zwei merkwürdige Aufpasser beim Einlaufen der Musiker wirkten seltsam, waren statt mit Gatti mit Manfred Honeck am Start. Der wäre wohl ein möglicher Kandidat für die Gatti-Nachfolge (immerhin fand der noch im Programmheft Erwähnung), in zwei Jahren geht dessen ertragreiches (dieser Tage zu verhandelndes) Pittsburgh-Engagement vermutlich zu Ende. Und Franz Welser-Möst sieht sich sicherlich ebenfalls auf der Finalkurve seines Weges in Cleveland.
Das Programm blieb unverändert: Zweite Wiener Schule mit Anton Weberns Fünf Sätzen für Streichquartett – in der großen Fassung zum Eingroven und Warmwerden für die tonfeinen Saiteninstrumente. Dann Alban Bergs Altenberg-Lieder, korrekt, aber arg sopranneutral und mit limitierter Kolorierung von Anett Fritsch (selbst in monochromem Zyklam gewandet) absolviert. Dafür tupfte das großbesetzte Orchester ein wenig bunter.
Als Hauptmahlzeit dann Bruckners dunkel dräuende, sich langsam häutende, aufschälende 3. Sinfonie. Honeck betonte deren d-moll-Charakter, pflegte dynamische Kontraste, ja Extreme. Er ist eher der spätromantische Wischtechniker, bei ihm klang es gut abgemischt, sfumatotrüb, misteriososchwarz. Das Orchester spielte weit direkter, kompakter, klangblockstark. Das war ein österreichischer Kirchenorgel-Bruckner, freilich mit juchzender Ländler-Rubatoseligkeit. Die letzten, transzendenten Offenbarungen mochte man vermissen, dafür war es zu sportiv gesund. Auch hier gilt: Das Orchester ist gut in Schuss. Möge ein neuer Chef also schnell kommen. Und mit dem beiden großen holländischen Klangkörpern ist nach wie vor zu rechnen.
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