Ein Musikfestival in Sachsen. Ausgerechnet! Jetzt. Muss das wirklich sein? Natürlich. Musikfest Erzgebirge. In einer herrlich früherbstlich glühenden Landschaft. Denn dort ist eben nicht alles Chemnitz. Auch wenn im idyllischen Hotel beim hübschen Barockschlösschen Lichtenwalde samt onduliertem Statuen- und Bosquettengarten in der Nähe von Chemnitz 54 Gäste und 88 Polizisten samt Autos nächtigen. Dabei war in den dunklen Straßen der eben so schief ins Gerede gekommenen Stadt alles ruhig. Meist nämlich sieht man die Rechten und Neonazis nicht. Weder beim Aufbruch der Fahrt in Dresden, noch beim Zwischenstopp am feucht-sonnigen Liebethaler Grund, wo 1933 (!) ein vergessen überzähliges Richard-Wagner-Denkmal als größtes seiner Art neben einer alten Mühle seine Heimat fand. An dem bronzenen Gralsritter mit seiner allegorisch nackten Jüngerschar ziehen nur friedliche Wanderer in Richtung sächsische Schweiz vorbei. Und seit dem Jubiläumsjahr 2013 können sie auch auf einen Knopf drücken und „Wagner wagen“ – dann tönt das möglicherweise auf Spaziergängen aus dem nahe Graupa hier ersonnene „Lohengrin“-Vorspiel durch den Laubwald.
Weiter geht es zu „Krone“ des Erzgebirges, dem Jagschloss Augustusburg, einem bald schon wieder überflüssig gewordenen Riesensteinding, weil August der Starke lieber bei Moritzburg die Tiere totschoss. Auch die Hasen, die in Augustusburg sich über so manchem Türsturz – ähnlich wie in Frankreichs Schlössern in den Affenkabinetten – malerisch zu Herrschen der Welt aufschwingen. Bis sie via Jäger doch in der Pfanne landen. Wunderliche Dachaufbauten gibt es hier, sogar einen Venussaal zum barocken Chillen nach dem Tanzvergnügen. Im Herrscherappartement (seltsamerweise im Erdgeschoss) liegt wohl noch Gemaltes unter weißen Wänden, in einem Kinderzimmer wurde schon Äffisches freigelegt, anderes ist noch vom Ölputz einstiger DDR-Wohnungen verdeckt. Sonst ist das monströse Gemäuer gut in Schuss, die gewitzte staatlich-sächsische Schlossherrin lockt ganze Bikertruppen zur Motorräderschau. Gerade sind Mangas in einer anderen Abteilung ausgestellt, moderne Skulptur kontrastiert reizvoll. Es gibt ein Kutschenmuseum in den Stallungen, eine Jugendherberge im Dienergebäude, und im Brunnenhaus kann man rustikal heiraten. Wovon reger Gebrauch gemacht wird. Wahrhaft: eine ziemlich lebendige Wettiner-Krone. Und das Musikfest spielt auch in der tollen Schlosskirche mit dem samt üppig Schnitzwerk umranken Cranach-Altar plus -Kanzel.
Die clevere Dame ist auch noch für zwei andere sächsische Schlösser zuständig – als „die sehenswerten Drei“ vermarktet, darunter eben auch Schloss Lichtenwalde. Dort wird eben originell im jugendstiligen Wintergarten mit kleinen Bäumchen für eine weitere Hochzeit eingedeckt (250 im Jahr bisweilen 12 an einem Samstag, also im Akkord). Im Gebäude mit dem südlandischen Flair gibt es ein paar historische Räume, und Sammlungen: ethnographische, eine mit feinen Scherenschnitten, eine Ausstellung über einen englischen Instagramer, der kleine Papierfiguren mit seinen Motiven interagieren lässt. Rentner ergehen sich zwischen den Rabatten, letzte Sonnenstrahlen scheinen auf den sächsischen Hirschbraten. Man ist deftig, viel und gut hier, die sozialistische Küche (Ausnahme: Solianka) scheint weitgehend ausgetrieben.
Das Musikfest Erzgebirge ist ein dezentrales Festival. Alle zwei Jahre wechselt es sich mit den Silbermann-Tagen auf den 15 hier noch spielbaren Silbermannorgeln ab. Vom Dom bis zur Dorfkirche sind die verteilt, nirgendwo gibt es noch so viele auf so engem Raum. Das Festival ist ein Kind des in Schwarzenberg aufgewachsenen Hans-Christoph Rademann. Sein Vater war hier Kantor, der Bruder ist Bildhauer. Dieses Jahr werden zehn Orte bespielt und meist auch besungen. Denn der renommierte Chorleiter setzt auch hier vornehmlich auf Stimmen, die füllen die vielen, himmelshohen Kirchen so gut.
So wie die mit schlichten weißen Rängen und einem klassizistischen Kanzelaltar prunkende Stadtkirche St. Martin in der schmucken Motorrad-Metropole Zschopau. „Träume“ ist das zum fünften Mal stattfindende Festival überschrieben, das die thematische Trilogie der „Blicke“ und „Wege“ abschließen soll. Und zur Eröffnung (leider ohne den Chef, der muss dieses Wochenende noch sein Stuttgarter Musikfest mit der Gaechinger Cantorey abschließen) wird „königlich geträumt“. Mit zwei ermahnenden, natürlich sächsischen Festkantaten zur herrscherlichen Erziehung, bei den im Schlaf pädagogisch mythologisch beraten, vor allem aber freudvoll musiziert und gesungen wird: Bachs Kantate „Herkules am Scheideweg“ und Johann Adolph Hasses mehr opernhafte Serenata „Il sogno di Scipione“. Das hier bewährte Barockorchester Wroclav unter Jaroslaw Thiel und seine Solistenschar Lydia Teuscher, Isabell Schiketanz, Franziska Gottwald, Julia Böhme und Sebastian Kohlhepp machen das ganz fabelhaft. Sie lassen sich auch nicht durch einen betrunkenen Störer aus der Ruhe bringen, den der MDR europaweit live überträgt. Der einzige sächsische Missklang an diesem idyllischen Wochenende. Immerhin besitzt der Dirigent die Geistesgegenwart, eine Sängerin gleich ihre sauschwere Arie wiederholen zu lassen, damit zumindest die Aufnahme makellos klingt. Hinterher würde man gern noch was zu sich nehmen. Aber am schmucken Marktplatz gibt es keine einzige Trinkquelle, und selbst beim Weinfest rund um den Bergfried „Dicker Heinrich“ der renovierten Burg Wildeck ist schon Zapfenstreich.
Am nächsten Tag, das zeichnet das Musikfest Erzgebirge als Landschafts- wie Musikerfahrung aus, wird ein touristischer Abstecher nach Zwickau eingeschlagen. Nächstes Jahr ist 200. Clara-Schumann-Geburtstag, auch wenn das eher ein Leipziger Thema ist. Wie also präsentiert sich inzwischen das von der DDR nach Kriegszerstörung wiederaufgebaute Schumann-Geburtshaus mit der einst von der Stadt erworbenen Familiensammlung, das ich zuletzt Anfang der Neunzigerjahre beäugt habe? Leider immer noch DDR-muffig, verschnarcht und gar nicht zeitgemäß, auch wenn der Museumsdirektor höchstselbst im speckigen Frack (er muss sich gleich beim Stadtmarkttreiben präsentieren) auf verschiedenen historisch bedeutsamen Tasteninstrumenten klimpert. 2011 ist die Dauerstellung neu konzipiert worden, man sieht es ihr nicht an. Experten haben sicher ihre Freude, aber multimedial befeuernde Schumann-Freude kommt nicht auf. Was für eine vertane Chance!
Dieses Musikfestival, von einer Minimannschaft gewuppt mit einem ebenfalls überschaubaren Budget von dieses Jahr aufgestockten (davon wird noch zu reden sein) 600.000 Euro, es kann nur funktionieren, weil es regional verankert ist, menschlich wie inhaltlich und strukturell, weil Landräte und Bürgermeister stolz in den Konzerten sitzen und am Ende den Dirigenten statt Blumen ihr modernes, geigespielendes Räuchermännchen überreichen. Deshalb werden auch Laien eingemeindet, zum Beispiel beim Erzgebirgischen Sängerfest, das nachmittags in der Marienkirche der rechtwinklig gezogenen Renaissance-Idealstadt (so was gibt es auch in Deutschland!) Marienberg anhebt.
Drei Kantoreien sowie die auch das Annaberg-Buchholzer Theater mitbespielende Erzgebirgische Philharmonie Aue unter der straff-befeuernden Leitung von keinem geringeren als Howard Aman beflügeln Felix Mendelssohns 2. Sinfonie „Lobgesang“. Das drängelt sich vor dem Altar und unter dem Kreuzrippengewölbe, der Kirchenhall trägt die Kehlenkraft vital nach oben. „Schon der Probenweg war das Ziel“, hatte Aman vorher gelobt. Und nicht nur mit Angehörigen ist die Kirche knackevoll. Zeit, die starken Eindrücke vom Mittagessen in Schneeberg zu verarbeiten, vor allem die Freundlichkeit der Turmtürenhüterin in der von den Amerikanern mit im Chemnitzer Bombenhagel übrig gebliebenen Spreng-und Brandbeschleunigern zerstörten, schon zu DDR-Zeiten wiederaufgebauten, den Ort überragende Kirche, die dem Bergmannspatron St. Wolfgang geweiht ist. Auch hier, wo am farbentrunkenen Cranach-Altar auf einer rückseitigen Tafel die Taube mit dem rettenden Zweiglein über den Wassern der Sintflut kreiselt, gastiert natürlich das Musikfest, aber erst später.
Nach der gesungenen Traumutopie für alle ist abends in Annaberg-Buchholz in der hübschen, mit einer Jehmlich-Orgel verzierten wilhelminischen Aula des ehemals königlichen Lehrerseminars ein „Nachtkonzert gegen schlechte Träume“ angesetzt. Die Aula heißt übrigens nach Rudolf Mauersberger, dem legendären Kreuzchorleiter (Bruder Erhard stand den Thomanern vor), der in seinem nahen Heimatort Mauersberg begraben liegt. So reicht die örtliche Musiktradition immer bis nach Dresden und Leipzig, Und natürlich ist auch Bach zu hören. Der vielgefragte Cembalist Mahan Esfahani spielt so trotzig wie traumschön, so diszipliniert wie gedankenfrei im Flow die Bachschen Goldberg-Variationen, das vielleicht berühmteste Musikschlafmittel überhaupt, das seinen Zweck verfehlt hat.
Und traut sich nicht nur, dem noch zugegebenen Purcell und Rameau folgen zu lassen. Hinterher in der extra noch geöffneten Gaststätte Türmer („Oh, it’s so GDR-chintz“ bejubelt er die Retro-Ausstattung) wagt er sogar ein Schwammegulasch, so sagt der Erzgebirgler nämlich, wenn er in den Pilsen erfolgreich war. Esfahani hat sie beide genossen und überlebt, den Chintz und die Pilze.
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