Eine „wüste Insel“, das geht schon in der Straussschen „Ariadne auf Naxos“ als Schauplatz nicht gut. Auf einer Insel, ihrem Zauberreich nämlich, lebt auch Händels Alcina, Hauptperson der gleichnamigen Seria von 1735: Magierinnen-Oper einerseits, aber auch sein intimstes, psychologisch ausgefeiltestes, glaubwürdigstes Musiktheaterstück. Liebe und Hass, Verzicht und Desillusionierung in der gar nicht starren Form der Dacapo-Arie. Am Ende steht eine übersinnliche Frau, die ihre Tricks einer vergeblichen Leidenschaft zum Ritter Ruggiero geopfert hat, welcher emotional schwer verstört dennoch zur ihn rettenden Braut Bradamante zurückkehrt. Am Theater an der Wien inszeniert das zur Saisoneröffnung Tatjana Gürbaca. Die steht schwer unter Beobachtung seit raus ist, dass sie 2020 den nächsten Bayreuther „Ring“ inszenieren soll. Am gleichen Haus hat sie sich klugerweise zuletzt schon mal mit der Tetralogie als reduziertem Nibelungen-Dreier beschäftigt. Jetzt aber enttäuscht sie mit dieser Frauenoper. Zu kalkuliert, gewollt knirschend und mit nur wenig Fallhöhe wirkt ihr nivellierter, ja fader Deutungsansatz.
Öd, leer, rauchend und grau ist diese Drehbühnenwelt vor gerölligem Rundhorizont von Katrin Lea Tag von Anfang an, ein paar Arnold-Schoenberg-Choristinnen in Rosa und Rot haben sich darin als feierwütige Heidi-Klum-Entourage verirrt. Doch der hedonistischen Bande wird auf diesem Anti-Kythera schnell das Partymachen vergehen. Alcina nämlich, zu Beginn noch in einer bettdeckenähnlich gepufften Robe in Rosagrau, ein spätes Blumenmädchen, verstrickt sich immer mehr in ein erstaunlich modern anmutendes Musikdrama der verwirrten Gefühle, der fließenden Geschlechtergrenzen, der Selbstsucht und der amourösen Unbedingtheit. Die graugekleideten Eindringlinge Ruggiero und Bradamante wirbeln diese abgeschotteten Welt durcheinander, legen sie emotional in Trümmer. Darin: jäh in ein melancholisch schwarzes Heute geworfene, ihrer Gefühle und Bestimmung unsicher gewordene, im Gesang Tröstung suchende Menschen. Hier nämlich ist niemand mehr eine Liebesinsel. Deshalb wird der Tatort am Ende mit Baustellenband umwickelt.
Gürbaca inszeniert das schwerfällig und spröde mit viel ausgedacht psychologisierender Aktion, die aber auch leicht albern wirkt, wenn sich etwa Alcinas Schwester Morgana und der in sie verliebte Vertraute Oronte ihre verlorengegangener Liebe versichern, indem sie sich beide die Herzen ausreißen. Aber rote Plastikorgane im Taschentuch, das wirkt dann eben auf der Opernbühne doch albern, herzlos und blutleer. Es wird viel in Unterwäsche gebarmt, es gibt Doubles, eine Schaukel, Feuerwerk und Regen, Minischiffe, komplizierte Parallelaktionen und szenische Rätsel, wie eine Miniaturfabrik, die der sich wohl seiner guten Herkunft erinnernde Ruggiero besingt. Später gerät dem intensiven, in der Höhe schrillen David Hansen der ariose Höhepunkt, die „Verdi prati“, eher farblos. Kein Wunder, hat der einzige Baum der Insel da doch längst alle Blätter verloren und die wenigen Blumen sind in ihre Löcher zurückgeschlupft.
Alcina versucht eigentlich nie richtig zu zaubern, zu mehr als ein paar sanft surreale Max-Ernst-Vogelmenschen langt es kaum. Die ist von Anfang an eigentliche eine Resignierte und Marlis Petersen, die bald Salome, die Marschallin und Beethovens Leonore singen will, tönt ganz durchscheinend und fragil, koloriert ihren hellen, immer noch mädchenhaften Sopran mit bleichen Farben. Mirella Hagens wenig soubrettige Morgana kämpft hingegen mit dem richtigen Händel-Stimmsitz, auch die monochrom dunkle Katarina Bradic gurgelt die Bradamante leicht unsauber und flüchtig, eher leise über die Verzierungshürden hüpfend. Rainer Trost ist ein eintöniger Oronte, Florian Köfler singt den Bradamante-Vertrauten Melisso mit wenig durchschlagkräftigem Bariton. Der St. Florianer Sängerknabe Christian Ziemski ist ein ordentlicher Oronte auf der Suche nach seinem Vater.
Enttäuschend auch, was aus dem Graben trocken und glanzlos tönt: Stefan Gottfried versucht sich als Nikolaus-Harnoncourt Nachfolger beim in die Jahre gekommenen, hier personell durchaus verjüngten Concentus Musicus. Das prickelt nur selten, lebendig klingt es erst im zweiten Teil, der abwechslungsreicher, drängend, kontrastiv gerät. Doch diese Intrigengeschichte als schillernd verführerisches, faszinierendes Gespinst aus Gesten, Klangverlockungen und ariosen Bekenntnissen bleibt diesmal szenisch wie musikalisch nur ein mehltaubelegtes, nicht richtig in Fahrt kommendes Opernseelendrama. Schade.
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