Crazy. Eines der berühmtesten Bühnenstücke der Welt kennt eigentlich keiner. Weil es kaum gespielt wird. Weil es als stumpf gewordene Sittenkomödie hoffnungslos veraltert und seine Musik doof, belanglos und aus zweiter Hand zusammengestolpert ist. Außerdem ist die Partitur sowieso nur noch teilweise und fragmentarisch vorhanden. Der einst so witzig sein wollende Text von einem ehemaligen Modeautor erweist sich längst als unpraktikabel, keiner versteht mehr die klugen und komischen Anspielungen auf die längst vermoderten Großen, Wichtigen, Bösen und Schönen der damaligen Zeit. Damals, das war im Londoner Jahr 1728, und der dem Dunstkreis von Alexander Pope und Jonathan Swift zuzurechnende Satiriker John Gay wollte sich für einen Bankrott rächen sowie die albern italienischen Opernkaspereien der Reichen und des Königs sächsisches Musizierliebchen aufspießen. So tat er sich mit einem anderen Deutschen von weit minderer Begabung, Johann Christoph Pepusch zusammen und schuf „The Beggar’s Opera“, den Hit der Saison – gleichzeitig das erste Juke-Box-Musical. Die kurzen Balladen (insgesamt über 60), die hier gegrölt wurden, entnahm man ohne zu fragen (Copyright gab es noch nicht!) teils dem erfolgreichen Songkatalog des Georg Friedrich Händel. Dessen Arien freilich in diesem räudigen Stück keiner singen konnte, was ja der Witz war. Produziert wurde das alles von einem Mr. Rich. Was das geflügelte Wort abheben ließ, die zu ihrer Zeit rauf und runter gespielte, mit Fortsetzungen gemolkene und sogar von William Hogarth gemalte „Beggar’s Opera“ habe Herrn Rich sehr gay und Herrn Gay sehr rich gemacht. Ähnlich ging es 1928 den Herren Brecht, Weill und dem Theaterbesitzer Ernst Josef Aufricht, als sie das vielfach umgeschriebene und aktualisierte Stück für das Berliner Theater am Schiffbauerdamm in die „Dreigroschenoper“ verwandelten. Und seither ist die „Bettleroper“ außerhalb Englands (wo sie bisweilen schwerst modernisiert noch auftaucht) nicht mehr gesehen, aber trotzdem legendär. Ein schöner Zufall übrigens, dass gleichzeitig mit der neuerlich deutschen Verfilmung der „Dreigroschenoper“ sowie der kommerziellen Wiedergeburtswehen von Mackie Messer, den Peachums, Polly und Jenny jetzt das clever modernisierte „Original“ wieder tourt. Eben macht es im Grand Théâtre de Genève Station.
Was gut passt, weil die Genfer Oper renovierungsbedingt noch nicht wieder im großen Haus spielt, und das hölzerne Ersatz-Théâtre des Nations für dieses kleine, dreckige Stück so gut geeignet ist. Kam diese so minimalistische wie energetische Produktion doch letztes Jahr im schrabbeligen Pariser Kult-Théâtre Bouffes du Nord heraus und wird als Europa-Tournee von Frankreich aus über England, Luxemburg, die Schweiz, Belgien und Italien geführt. Nur Deutschland bleibt leider außen vor. Dabei hat sich hier doch Opern-Hochadel für die olle, diesmal freilich gar nicht ranzige Parodie zusammengetan: der musicalerfahrene Robert Carsen und sein bewährter Dramaturg Ian Burton führen Regie, der hochmögende William Christie mit einer neunköpfigen Kleinsttruppe seiner Les Arts Florissants hat links auf ein paar mit Noten IPads bestückten und mit einem Cembalo versehenen Kartons Platz genommen – mit Zopf am weißen Haarrestkranz und Renter-Rocker-Look.
Auf seine alten Tage wird der Darmsaitenguru noch ganz locker. Und fetzt die schnell verflogenen, hemmungslos umgestellten Bänkelliedchen einfach so mit Gigue-Schwung weg, viel Substanz haben sie eh nicht, aber die bewegliche akzentuierte Musizierweise à la Christie peppt sie ein wenig auf. Das gilt auch für die fetzige Inszenierung zwischen Barock und Breakdance, die, sobald sich der erste Penner aus seinem Schlafsack wühlt und die anderen Akteure aus der bühnenfüllenden Pappkistenwand fallen, bis zum scheinheiligen Happy End zwei pausenlose Stunden später keinen Stillstand mehr kennt. Viel Nuancen sind da sowieso nicht drin: Einfache Charaktere in heutigem Dress werden simpel und direkt auf die Bretter gepfeffert und durch den Raum gewirbelt. Das kann Robert Caren sehr routiniert, aber dynamisch rhythmisiert, mit Pfiff wie Pepp. Und Ian Burton hat ihm dafür schmutzig aktuelle Witzchen geschrieben, die vor einem überdeutlich geschwenkten Galgenstrick fast alle zünden.
Aus dem jungen, versatilen, vor allem musicalerfahrenen Ensemble können sich nur wenige profilieren. Der schöne Benjamin Purkiss ist als Mackeath eher noch ein Babyhaifisch, der von den Frauen geliebt werden will. Das tun sie alle: Polly (Möchtegernjungfrau: Kate Batter), Jenny (erfahrene Schlampe: Lyndsey Gardiner) und sogar Mrs. Peachum (noch erfahrenere ehrbare Frau: Beverley Klein). Und der raumfüllend wütende Mr. Peachum (Nadelstreifenlude: Robert Burt, ein echter Opernbariton) mag sich auch vergebens gegen diesen Lauf der Dinge stemmen. Am Ende ist der Gangster mit Hilfe des Gefängnisdirektors Lockit (Kraig Thornber) ehrbar und verheiratet, alle sind sie Bänker geworden.
Geld, Drogen, Alkohol, Sex, Korruption und organisiertes Verbrechen – alles nur ein Witz! Es lebe der verdammte Kapitalismus! Und der blöde Brexit, soll er doch nach Britannien kommen! Hier hat man sich zumindest mit Galgenhumor und Musicalwut gewappnet. Und aus der staubigen „Beggar’s Opera“ eine flippige „Dreipappen-Plus-Oper“ fabriziert.
Der Beitrag „The Beggar’s Opera in Genf: das „Dreigroschenoper“-Original als freche Dreipappen-Plus-Oper erschien zuerst auf Brugs Klassiker.