Wer hätte das gedacht: Da gehe ich an einem Wiener Doppelpemierenabend lieber in die Volksoper in Lortzings „Zar und Zimmermann“, eine Oper, die ich bestimmt 20 Jahre nicht mehr gesehen habe als am Theater an der Wien in einen mittelprächtig besetzten „Guillaume Tell“, den ich allein in zwei Jahren mit vier Weltklassetenören (Juan Diego Flórez, Michael Spyres, Bryn Hymel und John Osborn – auch hier, aber der Rest…) erleben konnte. Zumal die Wiener Premierenplanung nach der einen französischen Grand Opéra mit „Les Troyens“ an der Staatsoper gleich den nächsten Klopper ähnlicher Machart hinterher schickt. Und da folge ich dann doch nicht dem Liberace-Wahlspruch „Zuviel des Guten ist wundervoll“. Obwohl das zumindest am Währinger Gürtel für die Ausstattung des wie stets auch regieführenden Hinrich Horstkotte durchaus gelten kann. Der hat da wirklich alles hineingepackt, was einem an holländischen Klischees nur so einfällt – und es ist wundervoll. Obwohl beim zweiten Hinschauen deutlich wird, dass dieser mit Gewalt niederländische, nur von oben durch Gitter beleuchtete Souvenirkasten eigentlich ein Heiterkeitskerker ohne Ausgang ist…
Da kommt die Handy-Ausschalten-Ansage bereits auf Holländisch, was für erste Lacher sorgt. Wie auch schon der Souffleurkasten im blauweißen Delfter Kachelmuster ausgekleidet ist, so wie ziemlich alles, Wände, Türen, Kostüme. Dazu gibt es gelbe Tulpen aus Saardam, Frau Antjes und fahrradfahrende Meisjes die Menge, einen goldenen Edamer sogar als Dreiviertelmond, Oranje-Orangen auf den Obrigkeitssymbolen, sich drehende Windmühlenflügel auf Bürgermeisterhüten und viele Holzschuhe. Horstkotte lässt handwerklich sauber und exakt getaktet den Lortzing Lortzing sein, nur die Dialoge wurden sanft upgedatet. Und man kann endlich wieder mal bewundern, wie geschickt das gebaut und komponiert ist, wie ein zudem selbst tenorsingendes Originalgenie noch vor Wagner sich seine originellen Musiktheaterwerke gekonnt selbst zusammengezimmert hat.
„Diese gewaltige Popularität, die Lortzings Werke alle Stürme der Zeit überdauern lässt, verdankt der Meister der Einfachheit und Eingänglichkeit seiner Melodien, die aus dem Boden des deutschen Volksliedes erwachsen, doch so weit in die Sphäre der Kunst gehoben sind, dass sie, jedenfalls innerhalb des deutschen Geisteslebens, einen gewissen Ewigkeitswert besitzen.“ Das hat der jeder Blut-und-Boden-Ideologie unverdächtige Kurt Weill geschrieben. Doch leider scheinen es sich die deutschsprachigen Intendanten nicht zu Herzen genommen haben. Denn das Verschwinden von Lortzing aus den Spielplänen ist schon erschreckend. Als ob es zwischen „Fidelio“ und dem „Fliegenden Holländer“ nur den „Freischütz“ gebe. Und sich Regisseure eher für die ewigen szenischen Totgeburten „Genoveva“ oder „Euryanthe“ interessieren als für einen komödiantisch prima funktionierenden „Wildschütz“ oder „Waffenschmied“.
Die Provinz hält dem mit den ewigen drei Stücken noch ein wenig entgegen, und die Leipziger Musikalische Komödie hat eben auch den „Casanova“ ausgegraben. Da freilich wird Lortzings biedermeierliche Beschränkung deutlich, der ist kein vergessenes Meisterwerk; wenngleich in dem restaurativen Klima von 1841 die Bevorzugung des Freiheitshelden in einer „Fidelio“-Konstellation im Gefängnis gegenüber dem ewigen Schürzenjäger auffällig ist.
An den großen deutschen Opernhäusern herrscht freilich in Sachen Lortzing Fehlanzeige, zuletzt durfte an der Semperoper der „Wildschütz“ 2015 auf seinen Esel schießen. An der Volksoper aber spielt man jetzt – nach immerhin auch schon wieder 22 Jahren seit der letzten Neuinszenierung – direkt und liebevoll „Zar und Zimmermann“ vom Spielopernblatt. Mit lauter saftigen Typen in einem robust komischen Ambiente. Alberner Dreh- und Angelpunkt ist der zum Topf aufgeblasene Bürgermeister van Bett des trotzdem auch vokal wendigen Lars Woldt. Der trägt mit Würde seine käsegelbe Lockenperücke und bimst seine dämliche, aber lustige Huldigungskantate mit einer geriatrischen Sängerschar im Altenheim zwischen wuselnden Beginen ein.
Dem steht ein ungewöhnlich temperamentvoller, ja jähzornig herrschsüchtiger Zar aller Reussen gegenüber in Gestalt des virilen, doch mit einem geschmeidigen Bariton ausgestatteten Daniel Schmutzhard. Der hat hier trotz der Intrigen alle Zügel in der Hand und darf auch seine oft gestrichene erste Arie „Nur eurem Glück war mein Leben, nur eurer Größe geweiht“ singen. Dass er mit Krone, Zepter und Stern spielen kann, das sieht man dann spätestens bei seinem effektvollen Finalauftritt, wenn er mit seinem Schiff durch die Kachelwand fährt.
Carsten Süss ist ein bockig tenorflüssiger Peter Ivanow, der vom desertierten Soldat zum angeblichen Herrscher mutiert. Über Mara Mastaliers darstellerisch nette Marie hätte der selige Hofrat und Volksopern-Direktor Franz Salmhofer mal wieder seinen legendären Satz sagen können: „Gsichterl hat’s a hübsches, aber d’Stimm’ is a Scherb’n“. Zum wunderbaren Männersextett im zwei herausfahrenden Häusern gesellen sich, ebenfalls als grelle Nationaltypen ausstaffiert, die drei Gesandten Stefan Cerny (Lord Syndham), Gregor Loebel (Admiral Lefort) und Ilker Arcayürek (Marquis Chateauneuf), der vorher sein „flandrisch Mädchen“ mit angemessen süßem Tenorschmelz besingt.
Das fügt sich, zum Finale wird als letzte Charmeoffensive noch eine keck klappernde Kinderschar zum herzigen Holzschuhtanz aufgeboten, zu wahrlich leckerer Unterhaltung. Nicht mehr und nicht weniger. Wozu heute fast schon Mut gehört. Und auch weil Christof Prick das alles hübsch schlank im Graben orchestral zusammenhält, der saftig klingende Chor seinen Spaß hat, kann man am Ende über diesen amüsanten Volksopern-Lortzing wirklich wieder sagen: „Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen, dideldum, dideldum, dideldum“ – und das war diesmal nicht nur das Zwischenspiel. Sondern die Hauptsache.
Der Beitrag Lortzing-Wonne in der holländischen Klischeekiste: „Zar und Zimmermann“ an der Wiener Volksoper erschien zuerst auf Brugs Klassiker.