Kein Triumph des Willens, ein Sieg des Wollens. Für den Dirigenten. Das war schon nach den ersten Takten von Hector Berlioz’ hier zuletzt vor vierzig Jahren gegebenem Opernschmerzenskind „Les Troyens“ an der Wiener Staatsoper klar. Auch wenn das Orchester noch kurze Zeit für die klanglich ungewohnte Feinjustierung und letzte Präzisionsabstimmung brauchte, Alain Altinoglou, der selbst das ausufernde, kaum gestrichene Stück erstmals interpretierte, gelangt in seiner zunächst demutsvollen Annäherung an den Grand Opéra-Vierstünder eine wunderbare, souverän angeführte Stilübung. Einer der besten, weichtönend und doch großräumig disponierten Opernchöre der Welt tat es ihm gleich. Zudem verstärkt auf bis zu 100 Mitwirkende durch die Akademie und den Slowakische Philharmonischen Chor Die Franzosen haben bis heute Schwierigkeiten mit dem zwischen 1856 und 1858 komponierten Mammutwerk des großen Vergil- wie Gluck-Liebhabers Berlioz. Der hatte sein Opus magnum selbst nie komplett hören können. Erst 1890 wurde es in Karlsruhe von Felix Mottl gekürzt uraufgeführt. In Paris delektiert man sich dafür am liebsten am Häppchen des Trojanischen Marsches, der als fiese Bearbeitung alljährlich das imperial anmutende Defilee des Opernballetts zu dessen großer Soirée de Gala akustisch umrahmt. Doch im Januar kehrt das Werk wieder an die Opéra de Bastille zurück. In Wien freilich war an der Staatsoper bisher weder „La damnation de Faust“, noch „Benvenuto Cellini“ zu erleben, das Theater an der Wien hat ich niemals um „Béatrice et Bénédict“ bemüht. Und die Philharmoniker spielen höchstens die Sinfonie fantastique oder die Opern in Salzburg, aber das ist auch schon wieder 20 Jahre her.
Zeit also für einen Neuanfang, Ehrensache, dass der von einem Franzosen, dem Operndirektor Dominique Meyer, ausging. Und klar auch, dass der wieder mal das Premierenrisiko bei solch einem gewaltigen Klopper scheute, sich koproduzierend absicherte bei einer erstmals 2012 in London gezeigten, dann nach Mailand und San Francisco weitergewanderten, auch auf DVD abrufbaren Inszenierung des mindestens einmal im Jahr hier vertretenen Wiener Zeffirelli aus Schottland, David McVicar. Der und seine monumentale Bühnenbildnerin Es Develin zeigen alles so, wie es im von Berlioz nach Vergil fabrizierten, für jeden der fünf Akte eine andere Grundstimmung und Struktur vorsehende Libretto vorgesehen ist. Praktikabel als szenisch nie ausuferndes, von Wolfgang Goebbel suggestiv ausgeleuchtetes Arrangement. Das nicht stört und nicht aufrüttelt. Das jede der vorgesehen Tanzeinlagen berücksichtigt (auch die Choreografin Lynne Page ist eine Bewegungspragmatikerin), die für Stimmung und Architektur der Bilder sorgen, und die, wenn gestrichen, die Grand Opéra stets in einen so trostlosen Flickenteppich verwandeln.
Hier gibt es Vor- und Nachspiele, scheinbar unnötige Arien von Nebenfiguren, die sich doch erst so köstlich zu diesem grandiosen, in vielen Facetten funkelnden Klangteppich verweben. Biegsam-brillanten ist dieser Berlioz-Klang sorgt, der alle Instrumentierungsfeinheiten freilegt. „Les Troyens“ à la McVicar ereignen sich in den beiden ersten Troja-Akten vor einer konvexen Stahl-Halfpipe, die dreistöckig bespielt werden kann und durch deren Mittelöffnung dann bedrohlich das aus Waffenschrott zusammengesetzte, fatale Griechenpferd seinen Kopf reckt. Seine roten Positionslichter weisen den Weg nach Karthago, Schauplatz der drei letzten Akte, wo sich der aus Troja geflüchtete Aeneas in die dortige Königin Dido ver- und entliebt, um auf Götter- und Ahnengeheiß zum sagenhaften Gründer Rom wie des römischen Volkes zu werden. Dort weichen Moritz Junges monochrome Krieger- und Damentrachten des 19. Jahrhunderts bunten Folklorefummeln, so wie die jetzt konkav nach innen gestülpte orange leuchtende Wand eine orientalische Idealstadt zeigt, dem jemenitischen Sanaa nicht unähnlich.
Da lässt es sich ungestört opernsingen und tanzen. Berlioz liebt die Kontraste und das große Tableau, seinen edel geschnitzten Klassizismus vertauscht er mit romantische vibrierender Streicherlyrik zum großen, tristanesken Liebesduett. Den geht als ein esoterisches Hippiefest das hinreißende Orchester- und Tanzbild der „königliche Jagd“ voraus, wie überhaupt der vierte Akt der musikalisch abwechslungsreichste, besonders delikate ist.
Und Alain Altinoglou macht klanglich immer klar, was an diesem szenisch in seiner bruchstückhaften Schwerfälligkeit nur angestrengt zu wuchtenden Opernbrocken an Bedeutung und Glanz steckt. Er trennt scharf Farben, meißelt kalt und schmeichelt zart, hat die Disposition und den Akteüberbau strategisch im Griff. Flammende Düsternis, Kriegskrach und Untergang wird abgelöst von repräsentativem Schimmer, diffuser Gefühlsdämmerung, die in ein zweites Brandopfer mündet. Und Dido auf dem Scheiterhaufen hat dann als großes Cinemascope-Charakterbild tragische Größe, an dessen Ende sich neuerlich ein die Eisenfaust reckendes, diesmal menschlich anmutendes Kriegsungeheuer aus Metall aufrichtet.
Gerne hätte man nach den ersten beiden Akten der unnachahmlichen Anna Catarina Antonacci zugejubelt, die mit ihrem dunklen Sopran auch schon anderswo die Kassandra zu einem weichsamtigen Monument sterbensbereiter Unbedingtheit hat werden lassen. Es sollte nicht sein. Schon in der Generalprobe konnte sie nicht singen, musste sich wie dann leider auch bei der Premiere durch das Ensemblemitglied Monika Bohinec vertreten lassen. Die macht ihre Sache sehr gut, würdig und mit großer Vokalgeste, ihre düstere Prophezeiungen bis zum kollektiven Selbstmord der Mit-Troerinnen beherrschen den ersten Teil, aber die Antonacci hätte sicher noch mehr flammende Persönlichkeit eingebracht.
Als Kassandras designierter Ehemann Coroebus empfiehlt sich der bullige Adam Plachetka mit etwas steifem Bassbariton. Unter den Tenören in der zweiten Reihe glänzen der tragfähige Paolo Fanale als Iopas und Benjamin Bruns als in einem Mastkorb entschwebender Seemann Hylas, der den fünften Akt traumschön eröffnen darf. Brandon Jovanovich ist der heldische Aeneas, der gut durchhält, sogar schmeichelt und geschickt um einige exponiert hohe Töne herumschifft. Szilvia Vörös singt schön und samtig Didos hauptsächlich für ein Duett benötigte Schwester Anna, Jongmin Park gibt den kantigen Politiker Narbal. Rachel Frenkel ist hellstimmig Ascanius, der Sohn von Aeneas. Alle anderen, von insgesamt 19 Sängern, sind tadelfrei.
Die Krone des Abends gebührt freilich einer echten Königin, im Leben wie auf der Bühne, Joyce DiDonato. Die amerikanische Mezzosopranistin, die die Dido erstmals letztes Jahr konzertant gesungen und (schon vielfach ausgezeichnet) aufgenommen hat, muss ohne die pastose Vokalfülle vieler berühmter Rollenvorgängerinnen auskommen (in Wien: Christa Ludwig). Doch sie baut ihr Portrait einer sinnfrohen, zweifelnden, dann sich hingebenden Regentin klug und nachhaltig auf. Sie macht mit Eleganz, Eloquenz und stimmlich Biegsamkeit wett, was ihr an tragischem Volumen fehlt. Ihr gelingt das Ringen um den Mann, die Verzweiflung, hier akustisch günstig vor einem Vorhang an der Rampe, grandios glaubhaft, ja anrührend. Wut, Todessehnsucht, Entschlossenheit, weher Abschied, den Degen im Anschlag, die Donato macht das so raffiniert wie einfach durch Farben und Stimmungen klar. Am Ende steht da ein erschöpfter Star, in seiner ersten Wiener Premiere (nur ein einziges Mal hat sie hier Rosina gesungen) vor seinem begeisternd ihn minutenlang feiernden Publikum
Nicht mehr Joyce DiDonato, sondern Joyce Dido-nato sollte sie jetzt heißen!!
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