Wenn sich Bässe was wünschen dürfen, dann ist es meist was Teuflisches. Sind doch zwei er beliebtesten, naturgemäß selten gespielten Opern für dieses Spezies Anton Rubinsteins „Der Dämon“ und Arigo Boitos „Mefistofele“. Der 1868 skandalös an der Scala uraufgeführte, 1875 für Bologna aufs heutige Maß gekürzte „Faust“-Spin-Off des damals 25-Jährigen, den man heute eigentlich nur noch als genialen Librettisten für Verdis „Otello“ und „Falstaff“ kennt (und als weniger genialen von Ponchiellis „La Gioconda“), er wurde in Deutschland in den letzten Jahren immerhin zweimal in den Spielplan genommen – für René Pape und Erwin Schrott. In Lyon aber taucht er jetzt zur Spielzeiteröffnung an der Opéra auf, weil darin Chor und Orchester viel zu tun haben. Und weil ihn sich der im zweiten Jahr amtierende, gerade mal 35 Lenze zählende Musikdirektor Daniele Rustioni gewünscht hat. Schließlich stand er elfjährig im „Mefistofele“-Kinderchor auf der Bühne der Mailänder Scala, als dort Riccardo Muti das Werk mit und für Samuel Ramey herausgebracht hat. Und schon damals reifte der Entschluss, einmal selbst den Taktstock in den Händen zu halten.
Daniele Rustioni hat ihn sich erfüllt. Und er hat Recht getan. Gerne hört man dieses schräge, mosaikhafte Patchwork wieder, wo Geniales auf Banales trifft, wo mit den Grenzen der Gattung gerungen wird, ohne sie wirklich zu überwinden, wo es pfeift, raunzt, gellt, wo sich originelle Instrumentation und dürftige Harmonisierung finden, wo die „Faust“-bekannten Figuren nur wenig Tiefe und Profil gewinnen, dafür die Kollektive in einem schrillen, atmosphärisch kontraststarken Bilderreigen durcheinander gewirbelt werden und sich sehr dekorativ auf einer Resterampe arrangieren.
Was Daniele Rustioni ziemlich souverän im Griff hat. Dem entgleitet nichts, weder dynamisch noch tempomäßig, wobei er eher auf der schnelle Seite steht. Aber er lässt es auch generös laufen, wenn bei Boito der juvenile Wille zum Ausdruck überschwappt. Rustioni lässt die Grellheiten krachen, hat aber auch Sinn für die wenigen lyrischen, ja melancholischen Momente dieser buntscheckigen Höllenfahrt als Wahnsinnspartitur inklusive Leitmotivtechnik des damals wabernden „Wagnerismo“. Orchester, Chor und Kinderchor werfen sich mit stimmstarker Wonne in die fordernde, aber eben auch dankbare Klang- wie Sangaufgabe.
Auf der Szene einige alte, vielleicht auch zu alte Lyon-Bekannte. Álex Ollé von La Fura dels Baus ist an Saône und Rhône Stammgast. Und auch zu dem Stoff hat er als Regisseur schon viel gesagt, zum Goethe-Stück und seinen Porno-Variante, zu Berlioz’ „La damnation de Faust“, mit dem die katalanische Theatertruppe 1999 von Gerard Mortier in Salzburg auf die Opernweltkarte gesetzt wurde, und sogar zum Gounodschen „Faust“. Nun also soll der Komplex aus der Sichtweise des teuflischen Side Kicks beleuchtet werden. Der aber ist, so Ollé, kein eleganter Höllenfürst mehr, sondern nur noch ein Psychowrack, in dessen Kopf wir abendfüllend blicken.
Erstmal aber sehen wir – Alfons Flores hat es in typischer Stahlmanier entworfen – ein uniform aseptisches, grün leuchtendes Großraumlabor, wo in sterile Schutzkleidung Verpackte an Organen herummontieren. Auch Faust und Gretchen sitzen da, es langt aber nicht mal zu einem Feierabend-Flirt. Dafür dreht einer aus der anschließend anrückenden gelben Desinfiziertruppe durch, steigt in den Keller und gibt sich dort seinen mephistophelischen Visionen hin. Erst schlachtet er die herzig singenden Kinder ab, dann wird ihm selbst das Herz aus dem Leib geschnitten. Der Chor skandiert „Gerettet“, das Licht gleißt. Die Achterbahnfahrt ins dämonische Ich kann starten.
Die bleibt aber dann einigermaßen manierlich und statisch, die katalanische Frettchentruppe hat noch nie besonders viel von Personenregie gehalten. Äußerlich, spektakulär und bunt geht es zu, auf diversen Partys, die im Discokugelschein auch mal zur eher unlustig absolvierten Orgie ausarten. Flores lässt spektakulär die Büroebene nach oben schweben, später Treppen und Podeste sich absenken und pyramidal türmen. Irgendwann sitzt Gretchen hinter Gittern, als Schockeffekt wird ihr der tote Säugling unter der Cloche als Henkersmalzeit serviert, bevor sie sich auf dem elektrischen Stuhl in einem Blitzemeer zu Tode zuckt.
Die klassische Walpurgisnacht ist schließlich eine federnumrauschte Revue mit Helena und Pantalis als glittrige Reinkarnation der Kessler-Zwillinge. Nur die mit Puscheln und Boas bestückten, vorsichtig die Treppen herabtapsenden Chordamen hätten bei den Bluebell Girls im Pariser Lido noch ein wenig Schreit-Unterricht nehmen sollen. Am Ende fügt sich das mehr schlecht als recht wieder ins Anfangsbild vom ausgeweideten Teufel, der, auch Faust wurde von ihm abgemurkst, selbst immer noch nach Erlösung greint.
Vokal ist das Glück ebenfalls ein Gemischtes. John Relyea ist eine erstklassige zweite Basswahl, wenn die wahren Fachgrößen nicht können oder wollen. Er orgelt rabenschwarz, macht auch mit seiner hühnenhaft düsteren Figur Eindruck. Aber es fehlt ihm das verderbt Verführerische, gleißnerisch Dandyhafte, das ja auch diesem Goethe-Teufel eigen ist. Paul Groves, in Lyon selbst im Herbst seiner Tenorkarriere gern gebucht, spielt einen laschen Mitfünfziger-Faust im Paillettensakko und singt leider auch so. Mit dürren Spitzentönen und trockener Mittellage. Aber vielleicht ist das auch ein Akt interner Nostalgie: schon 1999 war er ebenfalls in der Fura-„Damnation“ in Salzburg dabei. Und ähnlich wie schon der Salzburger „Pique Dame“ ist als Margherita/Elena Evgenia Muraveva ebenfalls eine Enttäuschung. Ihr typisch russischer Flackersopran kommt nie zur Ruhe, ihr fehlt die Unschuld und pastose Reinheit für die Kerkerarie „L’altra notte“, neben Fausts „Dai campi, dai prati“, der einzige Arienhit der zusammengewürfelten Partitur.
So bleibt dieser „Mefistofele“, übrigens mit der neuen Mannschaft in Stuttgart koproduziert, wo er im Frühjahr 2019 Schwefel in Dur und Moll spucken wird, in Lyon eine teuflisch leckere Pasticcio-Sache – allein wegen des Dirigenten und der Klangkollektive.
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