Interessant. Seltsam. Alles ruhig. Klassik-Geschäft für gewöhnlich. Dabei hat letzte Woche so etwas wie eine Weißwaschung begonnen. Ohne besondere Vorkommnisse. Mal sehen ob sie anhält, oder ob hier nur schnell abgewickelt werden wird. Das Programmheft hat es ganz nüchtern aufgeführt: „Gatti. Schubert. Webern.“ Konzerte am 11. und 12. Oktober im Münchner Herkulessaal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Was wieder mal deutlich macht, wer in diesem Geschäft als wichtig gilt – erst der nachschöpfende Künstler, ein Star, natürlich, dann erst der Komponist. Gatti, genau, Daniele Gatti, vor Monaten von der „Washington Post“ im Rahmen der amerikanischen #MeToo-Bewegung wegen schwerer sexueller Belästigung zweier namentlich bekannter Sängerinnen an den Pressepranger gestellt, wofür er sich öffentlich „entschuldigt“ hat. Als ihn dann freilich Anfang August das Royal Concertgebouw Orchest Amsterdam wegen „ungebührlichen Verhaltens“ fristlos aus seinem erst seit zwei Jahren laufenden Vertrag als Chefdirigent entließ und begann, sämtliche anstehenden Konzerte mit willigen Ersatzdirigenten zu bestücken, da engagierte der Geschasste erst eine Firma namens Reputation Doctor“, dann kündigte er Klage an. Man weiß bis heute nicht, was da passiert ist oder sein soll, alle Beteiligten halten sich bedeckt. Sicher aus rechtlichen Gründen. Anderseits bleibt die das alles zu großen Teilen (auch mögliche Abfindungen) finanzierende Öffentlichkeit außen vor. Und darf rätseln. Eher suboptimal. Man kann vermutlich davon ausgehen, dass dieser Fall finanziell hinter den Kulissen geregelt werden wird. Der Betrieb freilich, der hat jetzt ein Problem. Wie umgehen mit einem Mitfünfziger, der eben noch überall bejubelt wurde, der eine vielgebuchte Größe im Konzert- und Opernwesen ist, und dessen Ruf zwar – nichts ist rechtskräftig – vielleicht noch nicht ruiniert, aber zumindest sehr angeknackst ist? München, als erste Institution in der urspünglich vorgesehenen Terminreihe dieser, nun ganz anderen Gatti-Saison, hat reagiert. Und Gatti spielen lassen. War das richtig?
Aus BR-Sicht sicherlich. Denn man hatte eine gültigen Vertrag mit Gatti. Die bloße Kündigung in Amsterdam, ohne ausführliche Angabe der Gründe, wird nicht langen, diesen Kontrakt in Deutschland zu brechen. Und man hat eine 25-jährige gemeinsame Konzertgeschichte. Anders als die durch #MeToo-Kampagnen ausgeschalteten alten Pultgrößen James Levine und Charles Dutoit (zu dem dessen Ex-Frau Martha Argerich eisern hält) ist Gatti kein Mann der Vergangenheit. Der 56-Jährige möchte und muss weiter sein Geld verdienen. Natürlich wüsste man gern, was auf den BR-Korridoren so abgegangen ist, wie sich die Musiker, speziell die Musikerinnen gegenüber diesem Engagement verhalten haben. War das jetzt der letzte, mit zusammengebissenen Zähnen absolvierte Pflichttermin oder folgen weitere, neue Verträge mit Daniele Gatti – als sei nichts gewesen?
Die Klassik ist sehr geübt darin, weiterzumachen, alles auszusitzen, die schöne, wahre Musik als Ware markenglänzend aufzupolieren. Siehe den eben in Berlin wieder glamourös-banal absolvierten Opus Klassik als Echo-Ersatz. Will sich der geneigte Schubert-Hörer im die Außenwelt ausblenden, akustikneutralen Konzertsaal-Tempel mit dreckigen Details beschäftigen? Offenbar nicht. Genauso wenig wie der Bayerische Rundfunk, der höchstens im Programmheft vermerkt, dass Gatti Chefdirigent in Amsterdam „war“. Das ist der einzig aktuelle Verweis. In Einführungen, Pausengesprächen – niente, genauso wie auf den propagandistisch die hauseigenen Ereignisse begleitenden BR-Radiowellen. Aber auch die übrigen Münchner Medien geben sich uninteressiert. So wie überhaupt die männlich dominierte Klassikkritik in Deutschland in der ganzen #MeToo-Problematik weitgehend das feingeistige Näschen in den Sand steckt.
In der einzigen auffindbaren Kritik des Abends, wird zwar von der „schwelgerischen Dirigier-Ekstase“ Gattis fabuliert, aber dessen Status im echten Leben wird totgeschwiegen. Sein Webern „fesselt“, die beiden „ostentativen“ Schubert-Sinfonien „berücken“. Aha. Immerhin, die niederländische Zeitung „De Volkskrant“ war auch gekommen, wollte sehen, wie man mit ihrem hinausgeworfenen Chef an solch reputierlichem Ort umgeht. Und wundert sich darüber, dass so gar nichts passiert. Als sie freilich nachhaken will, werden ein Interview, selbst Händeschütteln abgewehrt. „Amsterdam“ mache den Maestro immer noch wild, flüstert das Gefolge. Das ist es dann schon. Wirklich?
Die arg ausgedünnte Terminabfolge auf der Webseite Daniele Gattis zeigt ein baldiges Einspringen beim von Fabio Luisi geleiteten Maggio Musicale in Florenz an, auch der Buddy Valery Gergiev hat ihm neue Konzerttermine in Russland beschert. Das Old-Boys-Network gerade unter den allmächtigen Dirigenten, es scheint noch zu funktionieren. Auch die Oper Rom führt Gatti weiterhin ab Ende November als „Rigoletto“-Dirigent auf. So dürfte das Münchner Beispiel wohl Schule machen. Auch die Berliner Philharmoniker-Intendantin Andrea Zietzschmann wird wohl nicht auf Gatti als „Otello“-Dirigent zu den Osterfestspielen Baden-Baden verzichten können – so rein rechtlich, verstehen’s? Es sei denn, bis dahin tut sich was an einem Amsterdamer Gericht. Dann aber hätte sie wegen der Kürze ein Problem.
So wie auch Katharina Wagner und die Bayreuther Festspiele. Dort liegt ein ab 2020 über fünf Jahre laufender, von Daniele Gatti unterschriebener Vertrag für den neuen „Ring“. Braucht die Festspielchefin einen Ersatz, müsste sie wegen der Vorläufe jetzt handeln. Doch rechtlich sind ihr die Hände gebunden. Und die Moral? Die stand im feinen Klassikgewerbe noch nie so wirklich weit oben… und das scheint sich auch unter Intendantinnen noch nicht zu ändern.
Der Beitrag Er hat es getan: Daniele Gatti stand wieder am Orchesterpult des Bayerischen Rundfunks erschien zuerst auf Brugs Klassiker.