Jetzt geht es plötzlich Schlag auf Schlag und Sechzehntel auf Sechzehntel. Nachdem Medienverweigerer Grigory Sokolov jahrelang keine CDs mehr aufgenommen hat und sich nicht zu Wort meldete, gibt es jetzt im 12-Monat-Abstand (und ab heute im Handel) von dem dicken Herren am Klavier schon die zweite Doppel-CD bei seiner neuen Firma Deutsche Grammophon. Und er ist auch plötzlich gesprächig (obwohl er nicht sonderlich viel zu sagen hat – jenseits von Alter-Herren-Gegrantel). Den Marktwert steigert solcher Aktionismus aber natürlich enorm. Der 65-Jährige mit dem grimmigen Dackelblick sorgt, wo er sein unabweichliches Saison-Programm samt der fünf bis sieben Zugaben als dritter Hälfte vorstellt, für ausverkaufte Häuser. Beim letzten Mal in der Berliner Philharmonie konnte man – einmaliger Klassikfall – in der Pause sogar schon Billets für das nächste Konzert ein Jahr später erstehen.
Doch er wirkt immer noch authentisch. Einer, der sich nicht um Publikum und Betrieb schert, der sein Ding macht, konsequent, aber nicht verbiestert, in Komponisten und ihren Intentionen bohrend, aber das mit größtmöglicher Freiheit und ohne Manier. Das Unkonventionelle ist bei dem nicht Masche, sondern unbedingtes Mittel zum Zweck, Verzauberung und Legitimation seiner sehr speziellen Mission. Diesmal hat sich Grigory Sokolov zur Freigabe einer Schubert-Silberscheibe mit den vier Impromptus D 899 und den drei Klavierstücken D 946 (alles Spätwerke) entschieden, die im Mai 2013 in Warschau mitgeschnitten wurden. Die zweite Scheibe mit Beethovens Hammerklavier-Sonate, fünf Rameau-Charakterstücken und Brahms’ b-moll-Intermezzo aus op. 117, ebenfalls altersweise, bisweilen aber ruppig aufgeraute Klavierkost, wurde drei Monate später in Salzburg aufgenommen, gleichfalls live im Konzert.
Sehr abgeklärt, ja versuchsweise objektiv kühl und mit gedimmter Emotion spielt Sokolov die Schubert-Impromptus, metrisch fast pedantisch, aber fein schwingend und ruhig dahinfließend. Dabei doch von etwas erhöhter Geschwindigkeit, was sich aber durch den entspannten Grundgestus relativiert. Extrem gedehnt ist hingegen die auf 50 Minuten ausgeweitete Hammerklaviersonate. Aber auch hier ist Länge wieder relativ. Sie ist nämlich himmlisch vollgepackt mit Spannung, aber nicht überfrachtet mit Beethoven-Bedeutung. Da will es einer bis zum letzten Anschlag wissen. Und ihm gelingt das: Man folgt fasziniert hörend. Weil mit einem starken Willen formuliert, aber nicht apodiktisch behauptet wird. Der Versuch ohne Netz, der auch scheitern könnte, ist so nervös wie siegessicher zu spüren. Doch dann erreicht einer sein Ziel, nicht strahlend, sondern geschafft.
Um sich dann mit vergnüglich skurrilen, freilich nicht (zu) leicht genommenen Rameau-Tändeleien lautlos kichernd zu vergnügen. Aber wir sind bereichert wie begeistert. Barocke Manier als solche beim Wort genommen – ohne jeden historisch informierten Musizieranspruch, aber so graziös, wie derb. Virtuosenfutter der ehrwürdigen, dabei gar nicht gestrigen Art eben. Das alles klingt aus mit einem zärtlich verwehten, fast geisterhaft fahlen Brahms. Alte Schule. Und der Mann hat eine unbedingte Autorität an den Tasten, der man willig folgt. Weil Sokolovs Weg, so unspektakulär er begingen mag, in seiner Konsequenz sehr oft das Bewusstsein weitet. Kostbares Klavierspiel mit Mehrwert.
Sokolov: Schubert/Beethoven (Deutsche Grammophon)
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