Drei strenge, monothematische Konzeptalben hat Igor Levit bisher bei Sony vorgelegt. Als 26-jähriger startete er mit den letzten Beethoven-Sonaten. Es folgten Bach-Partiten und drei Variationszyklen von Bach, Beethoven und dem Amerikaner Frederic Rzewski. Mit Rzewski ist Levit inzwischen eng befreundet, er hat ihn hierzulande wieder podiumsfähig gemacht. Diese Veröffentlichungsabfolge hatte der ehrgeizige Deutsch-Russe geplant. Der Anlass der jüngsten Doppel-CD war hingegen ein trauriger: der Unfalltod eines sehr guten Freundes. Das freilich muss man gar nicht wissen, im Booklet wird er nur dezent angedeutet. Levit setzt sich also in einer für ihn charakteristischen Werkauswahl mit dem Sterben auseinander, mit der Transzendenz, der Trauer, aber einfach auch nur mit der Reflektion über Menschliches, Allzumenschliches. Er tut dies streng, getragen, dabei flüssig, transparent. So wie in der tonal zerfließenden Berceuse Feruccio Busonis, einem der besondere Komponisten-Favoriten Igor Levits. Auf „Life“ spielt er dieses in zwei Tonarten sich überlagernde, durch Pedalgebrauch zusätzlich schillernde Stück mit meisterlicher Entspanntheit. Um unmerklich überzugleiten in das Finale der zweiten CD – Bill Evans’ verhuscht dahingetupftes „Peace Piece“. Er spielt reflektiert, durchaus klangkulinarisch über dem Ostinato-Bass. Und am Ende entschwebt er zart in dieser Fast-Improvisation.
Auf der ersten CD lässt er der sanft ausschwingenden Busoni-Bearbeitung der Bach-Fantasia BV 253 die berühmte Bach-Chaconne folgen. Johannes Brahms hat sie von der Solovioline auf die linke Klavierhand übertragen. Levit hört seinen wie gemeißelten Tönen hinterher, sie bleiben noch in der Klanglinie verbunden. Dann huschen Schumanns Geister-Variationen spuckhaft fahl, ja zurückgenommen vorbei. Rzewskis klüftereiches „A Mensch“ ist als Epitaph für den Verstorbenen das heimliche Zentrum am Ende der ersten Scheibe. So wie bereits die zweite CD quasi den Übergang in eine andere Sphäre markiert. Auch klanglich mit drei monochrom disziplinieren Franz-Liszt-Bearbeitungen von Wagner und Meyerbeer. Totenklage ohne Verklärung ist das – oder einfach nur ein so humanes wie interpretatorisch nachwirkendes Album. Darüber mussten wir reden, polit- und twitterfrei.
Auf der neuen CD ist viel Liszt und noch mehr Busoni. Sind das Levit-Konstanten?
Ja, absolut. Bei Franz Liszt sind es ausgewählte Werke, die mir am allermeisten bedeuten. Die Pelerinages, „Ad Nos“ oder auch die Etüden. Die sind mir sehr nahe. Wissen Sie, diese Liszt-Phasen, die kommen und gehen wieder. Busoni jedoch bleibt immer. Er ist einer meiner großen Helden und sein Traktat zur Ästhetik der Tonkunst ist quasi meine Bibel. Auf dieser CD fügten sich all diese und viele andere Punkte einfach zusammen.
Als Erinnerung an einen lieben Toten?
Der Tod meines liebsten, engsten Freundes Hannes Malte Mahler war der Ausgangspunkt für dieses Programm, ja. Jedoch konnte die Musik mir beim Verarbeiten auch nicht wirklich helfen. Ich bin noch immer untröstlich über diesen Verlust. Mich trösten und mir helfen Menschen. Nach der Aufnahme im Frühjahr 2018 ging es mir, gelinde gesagt, suboptimal. Zumal dann die Arbeit am todessüchtigen „Tristan“ von Henze für die Salzburger Festspiele begann. Da herrschte dann eine ähnliche Stimmung. Wenn überhaupt etwas positiv an Hannes Tod war, dann, dass sich Menschen, die ihn kannten und liebten, jetzt nähergekommen sind. So sind viele neue Freundschaften entstanden. Wir sind alle beieinander und füreinander da. Und wir denken dann gern an die gemeinsamen Jahre mit Hannes zurück. Einer der schönsten Abende, die ich jemals mit ihm erlebt habe war, als wir zusammen schlechte Indie-Popmusik gehört haben: The Jazz Butcher, „A scandal in Bohemia“. Mit dem zweitbesten Cover aller Zeiten.
Und was ist das Beste? Monks Underground?
Ja, vorher wissen das??
Aber trotzdem wollten Sie die CD so machen?
Die Programmfolge, sie ist wie eine Erzählung, wo ein Stück aus dem anderen entsteht, sie schafft ein Klima des Erinnerns. Sie tut gut, aber sie macht meine Wut über den Verlust nicht kleiner. Das muss man aber überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Mit Hannes verbunden ist eigentlich nur „A Mensch“ von Frederic Rzewski. Und das war dann im Herbst 2016, als ich es erstmals für Hannes gelernt und gespielt habe, so etwas wie der Ausgangspunkt, über diese CD nachzusinnen. Doch ein Jahr später stand das Programm immer noch nicht, da gab es mindestens 20 mögliche Varianten. Vieles war mir auch zu todesthematisch. Etwa Alkans „Mort“. Ein unglaubliches Stück, aber das muss jetzt noch ein wenig warten. Denn es wäre zu redundant gewesen, das hätte nicht zu mir gepasst.
Ihre ersten drei Alben waren aber strickt als Zyklus konzipiert, richtig?
Ja, das war von Anfang an meine Idee, da waren alle Partner im Bilde und wir zogen auch an einem Strang. Anders hätte es auch nie funktioniert. Ich hatte bei der Sony von Beginn an das Gefühl, verstanden zu werden. Da entstand beim allerersten Gespräch in Essen eine Vertrauensbasis, die bis heute hält. Natürlich kommt hinzu, dass es kommerziell aufging. Ich gebe zu, ich bin viel zu sehr an Zahlen und Abläufen interessiert, als dass ich die Absicht des auch verkaufen Wollens dabei aus dem Auge verlieren würde. Ich möchte den Erfolg, will gehört werden, aber eben mit dem, was mir wichtig ist, was mich bewegt. Und so haben alle dieses Album, dieses Programm, das ja zunächst eine Suche war und sich erst kurz vor Aufnahmebeginn manifestiert hat, aufs Schönste mitgetragen. Sonst hätte ich vielleicht etwas ganz anderes aufnehmen wollen. Oder gar nichts. In meiner Lebensplanung war nicht vorgesehen, dass das hier kommt. Es war nicht vorgesehen, den wichtigsten Menschen zu verlieren, den ich, außerhalb meiner Familie, in meinem Leben hatte. Und es gibt jetzt erstmal auch keinen Plan, was als Nächstes kommt. Hoffentlich für sehr lange Zeit nichts Ähnliches. „Life“ steht also sehr für sich. Das ist auch ok. Und ab jetzt denke ich wieder neu.
Sind Sie ein Didakt?
Gar nicht. Ich will niemandem vorschreiben, was er zu hören hat. Wer das tut agiert antimusikalisch, ja antikünstlerisch. Ich behalte mir freilich vor, in jedem Programm zwei, drei Stücke zu haben, bei denen ich weiß, die spiele ich quasi nur für mich, die tun mir einfach gut. Im Falle von „Life“ sind das „A Mensch“ und Bill Evans`„Peace Piece“. Wobei ich glaube, dass keiner über den Rzewski stolpert. Denn wer mir folgt, der hat sich vermutlich ja auch mit den „The People united“-Variationen beschäftigt. Und der Bill Evans ist einfach ein wunderbares Finale. Emotional fühle ich mich übrigens am Ende von Beethovens Opus 111 ähnlich. Es ist eben kein Ende von etwas, sondern ein Beginn. Beethoven lässt uns in Schönheit und in Freiheit hinausgehen. Es ist etwas unbeschreiblich Leichtes, Transzendentes, was in diesem Ende liegt. Und so ähnlich fühle ich mich beim „Peace Piece“ auch. Es ist, als würde das Stück nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage enden. Wie so häufig im Leben. Mich interessieren Fragen eh mehr als Antworten. So wie übrigens jeder gute jüdische Witz mit einer Frage endet!
Müsste aber nicht eigentlich nach den schnöden Regeln des Plattenmarktes jetzt nicht auch mal ein Album mit Orchesterkonzerten folgen?
Jaaa, aber es muss passen. Ein ad-hoc Projekt, bei dem man das Gefühl hat, hier hat jemand eine Orchesterplatte gemacht, weil grad ein Orchester und ein Dirigent zu haben waren, das kommt für mich nicht in Frage. Es muss alles passen. Das Repertoire zum Orchester, das Orchester zum Dirigenten, die Dirigentin / der Dirigent zum Repertoire, alle zu mir und ich zu allen. Eine solche Konstellation zu finden ist nicht leicht, braucht Zeit und diese Zeit nehme ich mir auch. Natürlich bin ich bei Soloeinspielungen viel, viel unabhängiger und kann machen, was ich will. Es wird sicher etwas kommen. Ich habe gerade wieder mit Joana Mallwitz gearbeitet, die soeben zur neuen Generalmusikdirektorin in Nürnberg ernannt wurde. Joana ist einzigartig. Wir sind zusammen aufgewachsen und sie war schon im Alter von zehn Jahren eine inspirierte, inspirierende, wundervolle Musikerin. Was Joana mit jedem Einzelnen im Orchester tut, das sucht seinesgleichen. Ich vertraue ihr blind. Sie wird alles dirigieren können, was sie will, aber sie zu kennen, das ist für mich ein großes Geschenk. Mit Joana würde ich alles aufnehmen. So, jetzt hab ich’s gesagt.
Stichwort nochmals Henzes „Tristan“: Wird man das denn noch öfters zu hören bekommen? Ist ja quasi auch ein Klavierkonzert.
Unbedingt! Ich hatte mit Franz Welster-Möst und den Wiener Philharmonikern eine wundervolle Zeit. Es war für uns alle das erste Mal „Tristan“. Es war großartig, wie überlegt, wie ruhig und mit was für einer Herzensfreude das Orchester diese Musik für sich entdeckt hat. Da wusste ich nach dem ersten Probentakt: Das wird besonders. Die waren alle so beflügelt nach der gemeinsamen „Salome“, da spürte man die Verbindung zwischen Orchester und Dirigent sofort. Selbst für solche Profis kann eben ein Routinestück zur Erweckung werden. Und wie die dann den Henze gespielt haben, das war wirklich außergewöhnlich. Ich habe ein Jahr meines Lebens mit dieser grandios schweren Partitur verbracht. Das Glück, dieses Werk dann endlich zu spielen, und dann auch noch in dieser Konstellation, war enorm und da möchte ich schon die Früchte ernten! Das darf nicht das letzte Mal gewesen sein! Franz und ich fanden beide: Der „Tristan“ ist ein absolutes Meisterwerk. Dem wollen wir uns möglichst oft wieder gemeinsam aussetzen. Und eine Einspielung? Das wäre das Höchste.
Und sonst? Entspannter?
Naja. Entspannt gibt’s bei mir ja selten. Aber auch ich kann mich nicht um alles kümmern, nicht alle retten und in den Bus aufnehmen. Und manche muss man mit Kindersicherung festhalten. So wie mich.
Der Beitrag „Mich interessieren Fragen eh mehr als Antworten“: Igor Levits neue CD „Life“ – und ein Gespräch erschien zuerst auf Brugs Klassiker.