Ein König wird abgesetzt, eine krächzende Karotte, eben der Ackerfurche entschlüpft, erobert die Welt. Radieschen, Lauch, Rote Beete und Kohlrabis helfen dabei. Dazwischen wird nach Pompei zeitgereist, wo man als hinreißendes Quintett die Vorzüge der Eisenbahn beschwört. Es gibt Hexenflüche und ausgerissene Magier-Glieder, zwei als Kerle verkleidete Frauen und diverse intrigante Minister. Der Ring Salomons wird gesucht. Und natürlich handelt das alles letztlich von Liebe. Nur von den eigentlich noch vorgesehenen Affen ist höchstens einer zu sehen. Kein Wunder: Sechs Stunden dauerte bei der Pariser Uraufführung 1873 „Le Roi carotte“ von Victorien Sardou und Jacques Offenbach. Der Librettist, dem hier eine scharfe Satire auf den eben vom deutsch-französischen Krieg verwirbelten Napoleon III. gelang, kennt man heute höchstens noch als Verfasser schwülstiger Salonstücke à la „Tosca“. Und von vielen der knapp hundert Musiktheaterwerke Offenbachs weiß man höchstens den Titel. So wie von der zwar heftig gefeierten, aber durch seinen immensen Aufwand (1500 Kostüme und 19 Bühnenbilder bei der Uraufführung!) alle Interessenten abschreckenden, gar nicht veganen, sondern ziemlich blutigen Karottenkönig-Revue. Die Autoren selbst kürzten ihre „Opéra-bouffe-feerie“ auf drei Stunden und elf Bilder herunter; dennoch wurde das Werk nach 1877 nur noch selten in radikal beschnittenen Kammerbearbeitungen gegeben. Es existierte quasi jenseits des in jedem Offenbach-Kompendium abgebildeten Plakats nicht mehr.
2015 aber wurde es in Lyon von dem Komödien-Spezialisten Laurent Pelly glanzvoll wiederbelebt. Und jetzt – der 200. Offenbach-Geburtstag naht 2019 – kam diese vom Spezialisten Jean-Christophe Keck edierte Fassung erstmals wieder in Deutschland heraus, in einer pfiffigen, griffigen Übersetzung von Jean Abel. An der Staatsoper Hannover hat der dort bestens gelittenen Musicalspezialist Matthias Davids schwungvoll und kulinarisch inszeniert. 2019 wandert die Produktion weiter an die Wiener Volksoper. Doch zwischen all dem Rokoko-Kostümzauber, den Susanne Hubrich auf Mathias Fischer-Dieskaus verspiegelt einsichtiger Theater-auf-dem-Theater-Bühne zwischen wackeligen und gemalten Kulissen entfesselt, hätte man sich ein wenig mehr satirische Bissfestigkeit beim revoltierenden Gemüse gewünscht. Hier kaut man auf einer gut durchgekochten, nicht sonderlich scharf abgeschmeckten Ratatouille – abgeschreckt wird niemand.
Doch dieses einstige Schauspiel mit Musik, von Valtteri Rauhalammi am Dirigierpult liebevoll dampfgekocht und blanchiert, begeisterte trotzdem ungemein : als vegetarisches „Les Miserables“ und als prunkvolle, doch flotte, bös-prophetische Operette mit kitschig-süßem Love-Story-Glanz und klappernden Ahnen in ihren Rüstungen. Es wird manierlich gesungen von Lustbarkeits-Experten wie Eric Laporte (der dusselige Kronprinz Friedolin XXIV.), Mareike Mor (die kerlige Fee Robin), Athanasia Zöhrer (die kunffelige Rosée-Du-Soir) und Stella Motina (die zickige Prinzessin Kunigunde). Als Hexenkerl Kalebasse im Kleid putscht Daniel Drewes die Wurzeln und Sprossen an die Macht. Bis am Ende der böse, aber welke König Karotte (knackig: Sung-Keun Park) standesgemäß sein maskenloses Ende als Eintopf findet und der geläuterte Herrscher sein Land Krokodyne beglückt.
Ungefähr vierzig abendfüllende Werke hat Jacques Offenbach in seinem langen Entertainmentleben verfertigt, bekannt ist davon höchstens ein Viertel. Und nicht nur hat er einst sein Publikum auf das Beste unterhalten, er sog wie ein Schwamm die Musiktrends seiner Zeit auf, machte sich über sie lustig, variierte, verfeinerte sie und glasierte sie mit seinen pikanten Melodien. Deswegen ist immer wieder die Überraschung groß, wenn wieder ein verblasstes Meisterwerk aus dem Schatten tritt. Als nächstes hoffentlich am 7. Dezember, in Koproduktion mit der Kölner Oper, an der Opéra du Rhin in Straßburg: „Barkouf“. Der opulente Dreiakter erzählt von einem singenden Hund als Vizekönig. 1860 war das natürlich eine weitere Satire auf Napoleon III. Auch auf aktuelle Potentaten anzuwenden…
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