Der Glamour ist weitergezogen, die konzertkurze Bodenberührung der Berliner Philharmoniker im neuen, schicken, etwas seelenlosen Arts Center von Kaohsiung vorüber. Wobei man nicht glauben soll, das Auftreten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sei hier Alltag. Seit 2005 ist man aber jetzt zum immerhin fünften Mal in Taiwan, von einem Konzert in Taipeh, hat man sich auf vier in drei Städten gesteigert. Mariss Jansons mag China nicht besonders, und der Verbund der nunmehr drei taiwanesischen Nationaltheater lädt regelmäßig ein. Und kümmert sich rührend. Mit weit über dem Durchschnitt sich präsentierenden, warmen Backstage-Büffets für die in einem besonders straffen Zeitplan reisenden Musiker, mit einer flexiblen Planung für alle die zusätzlichen Proben, die es braucht, wenn ein kranker lettischer Chefdirigent durch einen eigentlich noch kränkeren, eben genesenden 82-jährigen indischen Dirigierstar ersetzt wurde. Der zudem seit zwei Wochen im Rollstuhl sitzen muss – weil er sich bei der Visaerteilung im koreanischen Generalkonsulat von Los Angeles eine sehr schmerzhafte Beckenfissur geholt hat. Natürlich wollten die Ärzte ihn eigentlich nicht lassen, scherzt Zubin Mehta im komfortablen Probenraum des neuen Kulturzentrums, wo er jetzt mit der Arbeit am Straussschen Heldenleben beginnt, zupackend, gewissenhaft, souverän wissend, aus einer Jahrzehnte langen, kosmopolitisch wie keine währenden Karriere resultierend, wo die heiklen Stellen selbst in einer so vertrauten Partitur liegen.
Es sei ihm eine große Ehre für seinen kranken Freund Mariss einzuspringen, sagt Metha, und man sieht ihm an, wie unangenehm es ihm ist, sich nur mit seinem Tross aus Ehefrau Nancy, Assistentin, Helfer und Doktor fortbewegen zu können. „Aber noch schöner ist es für mich natürlich, so unverhofft mit Ihnen, diesem wunderbaren Orchester wieder zusammenarbeiten zu können.“ Der Beifall, der ihm entgegenbrandet, ist so offen wie ehrlich. Auch später, nach den ersten Proben und Konzerten, werden die Musiker schwärmen, wie viel dieser immer schon minimalistische, nun noch mehr eingeschränkte, trotzdem auswendig dirigierende Maestro mit den Augen macht, wie sicher er alle zusammenhält, Rubati setzt. Gerade das oft malträtierte, per se schon egomane Heldenleben präsentiert er als sich ruhig entfaltende Klangerzählung, in der die Instrumentalgruppen fein ausbalanciert klingen, Strauss Strauss sein darf, ohne dass da eine besondere, durchgepeitsche Interpretenhandschrift zu spüren wäre.
Das deutet sich stärker schon in der morgendlichen Probe an, die endlich in den auch leer gut und satt klingenden Saal führt. Überraschend hurtig und sehr beweglich in den Holzbläsern kommt die 3. Schubert-Sinfonie, von der Mehta später schwärmen wird, die er selbst lange nicht auf dem Konzertplan gehabt hatte, und was es doch für ein Glück und eine Besonderheit sei, hier in Taiwan ein solches, eigentlich unspektakuläres deutsches Programm, ohne jeden Solisten, präsentieren zu können. In China oder Japan wäre das wohl kaum möglich. Die Taiwanesen seien da in der Rezeption westlicher Musik viel erzogener und geistig weiter.
Und abends, im ersten Tourneekonzert, ist genau das zu spüren. Tiefe, dabei relaxte Aufmerksamkeit eines durchaus wissenden, disziplinierten Publikums als Querschnitt durch die Bevölkerung. Kaum unterschieden von den Besuchern, die hier abends vorher für die von einem privaten Veranstalter präsentierten Berliner zum doppelten Preis von 360 Euro gesessen haben. Die etwas breite, zu wenig in den Tempi variierende „Rosamunde“-Ouvertüre und die Schubert-Sinfonie, die seit dem Morgen deutlich molliger geworden ist, werden beifällig aufgenommen, man hat ja beobachtet, wie langsam der sonst im Rollstuhl sitzende Zubin Mehta sich an seinem Stock mit dem silbernen Entengriff zu seinem Sitz bewegt, wie sehr ihm ein Orchesterwart helfen muss, samt Rampe und Fußpodest sein Podium zu erklimmen. Den Beifall kann er auch nicht durch Wiederkommen so auskosten wie er schon nach der ersten Hälfte aufbrandet. Manches ist eben diesmal anders auf der Tour, die vertrauten Rituale müssen variiert werden, aber trotzdem sind alle begeistert.
Das Orchester vorneweg, dass es natürlich genießt unter einem solch erfahrenen Dirigenten spielen zu können. Es ist anders als sonst, aber eben auch Routine, die Tour-Strapazen bleiben außerhalb des Konzertsaales. Das Leben wie in einer Blase, hier Bus, da Hotel, dort Saal, Bahnhof, Flughafen, weich abgefedert in Jetleg-Watte, meist nicht mehr so genau wissend, wo man ist, welches Datum, ja welcher Wochentag geschlagen hat, stetig geführt und geleitet, von jungen Asiatinnen, die mit Schildern und Handzeichen die Wege weisen.
Exzeptionell gerät am ersten Konzertabend der Strauss. Das vielgeschmähte Stück wirkt in jeder Note richtig, ein wenig zu viel Heldinnenverliebtheit vielleicht, aber Konzertmeister Radoslaw Szulc spielt seine Soli als kluge, belebt sprechende Dialoge ohne Pappsüße, flexibel artikuliert. Bewegend, wie der hinfällige, doch geistig straffe Mann am Pult das zugleich laufen lässt und gestaltet, genießt und befeuert. Die ruhige, dienende, kontemplativ ausgekostete Erzählhaltung begeistert. Da türmen sich nicht die Höhepunkte, jede auftrumpfende Strausssche Extrovertiertheit bleibt außen vor. Das ist so sentimental wie echt, direkt und kunstfertig. Und gipfelt am Ende in großartig anschwellendem Beifall, der nach dem zugegebenen 8. Slawischen Tanz von Dvorak sich bis zum Stehen, Schreien und allerheftigstem Händeklatschen steigert. Ja, in Taiwan, da fühlt sich ein Sinfonieorchester gerne mal als Popstars. Um hinterher – wenn nicht noch eine große Buffetparty samt DJ folgt wie hier – allerdings gleich wieder auf Tourneemodus zu schalten: schnell Essen, ein Bier vor dem Hotel, Zigarettchen, virtuellen Kontakthalten in die acht Stunden rückwärtslaufenden Heimat, möglichst viel Schlaf, oder Üben zu den unmöglichsten Tageszeiten, um den Asien-Aufenthalt sinnvoll zu nutzen. Auf dem Empfang aber saß da wieder der alte Pultriese und sprach: „Ich verbeuge mich vor ihnen, und dieses Heldenleben, das war erst der Anfang, es wird wachsen.“
Am nächsten Mittag geht es weiter, nach der Hafenstadt Kaohsiung steht die eine Stunde mit dem Hochgeschwindigkeitszug entfernte, zweitgrößte Stadt des Landes, die hippere Dienstleistungsmetropole Taichung, auf dem Konzertplan. Hier haben alle etwas Zeit, zu überprüfen, wie sich die 2016 eröffnete futuristische Kiste des Pritzker-Preisträgers Toyo Ito seither entwickelt hat. Denn vor zwei Jahren im November war man hier erstmals. Der Dachgarten ist noch grün und selfiebeliebt, die organisch röhrenhaft sich windenden Foyers, wo man in bunten Freskovögeln das Gesichtsprofil des Architekten ausmachen kann, überraschen nach wie vor. Die schicken Boutiquen, in dem sich als „Theater for the Arts and New Lifestyle“ anpreisenden Komplex sind belebt. Es gibt sogar die Maserung der Opernhaussitze als Geschenkband. Das spektakuläre Restaurant hat freilich etwas nachjustiert und seine üppigen Büffettische abgespeckt.
Joyce Y Chiou, die neue, smarte Direktorin des Centers, sagt aber auch ganz ehrlich, dass man genau wissen muss, was und wieviel man den Menschen hier anbietet. 2017 waren vier Millionen Menschen im Gebäude, 200.000 Tickets wurden verkauft. 20-30 Prozent beträgt der Anteil von westlicher Klassik im Spielplan. Oper gibt es nur einmal im Jahr, man ist mit dem „Ring des Nibelungen“ aus Valencia, dessen „Rheingold“ das Haus eröffnet hatte, erst beim „Siegfried“ angelangt. Auch ein westliches Spitzenorchester leistet man sich nur einmal pro Saison, diesmal ist es eben wieder das BRSO. Tanz geht sehr gut, aber auch Theater wird gern aus Europa importiert, etwa die „Kleine Meerjungfrau“ aus Linz, wo das Ballett von einer Taiwanesin geleitet wird. im Dezember steht Romeo Castellucci an.
Es ist ein langer Tag, das Konzert ein typisches zweites. Diesmal ist Mozarts Jupiter Sinfonie vor den Strauss gesetzt, sie zieht sich kaugummiartig. Was nicht nur an der dumpfen, trockenen Akustik der tiefliegenden Orchestermuschel in dem Opernhaussaal liegt. Für dieses Stück war die Probenarbeit dann doch zu wenig, es wird al fresco auf Sicherheit musiziert. Trotzdem reißt es Zubin Mehta so mit, dass er – zum Schrecken seiner Frau, des Arztes und von Orchesterdirektor Nikolaus Pont – die Dvorak-Zugabe stehend dirigiert. „Es waren doch nur drei Minuten,“ entschuldigt ein Zubin Mehta fast kindlich seinen leichtsinnigen Enthusiasmus. Und schon geht es noch am späten Abend weiter im Schnellzug nach Taipeh, 45 Minuten, hier sind die Wege kurz.
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